Samstag, 3. September 2011

Ich habe diesen Namen gehasst ...

Er war ein Fluch, dieser Name.
Schon als kleines Kind hieß es oft "...so wie der ...?"
Und dann kam ich mir als Zehnjähriger vor, als wäre ich in Spanien kämpfen gewesen.
Ein Vorbild - unbedingt ein Vorbild.

Ich musste mich befreien, den "Ehrendienst" an der Waffe bei der "Nationalen Volksarmee" der DDR verweigern.
Dann hatte ich zwar bei einigen Bonzen verschissen, aber ich fühlte mich befreit. Ich war nicht der. Nach mir würde keine Kaserne (der "Volkspolizei") benannt.

und jetzt ...?
Jetzt möchte ich mich fast entschuldigen.
Deutsche Interessen werden weltweit mit der Waffe durchgesetzt.
"Mein" Hans Kahle ist losgezogen, um die Regierung eines Landes, die sich dessen Volk gegeben hatte, vor der Niederwerfung bewaffneter Banditen in Uniform zu schützen. Gegen bombende Deutsche.
Er hatte erkannt: Manchmal muss man einfach tun, was nötig ist.
Hätten die internationalen Brigaden damals gesiegt, ... vielleicht wäre dies der Test gewesen, der die Faschisten in ihrem Größenwahn der Überlegenheit gebremst. Vielleicht wäre der 2. Weltkrieg nicht, bestimmt aber nicht so über die Menschheit gekommen.

Und ich denke dran, wenn manchmal wenigstens in einer Zahl die unter dem Bombenhagel der Mordwilligen getöteten libyschen Menschen erwähnt werden oder die Afghanen, Iraker, Pakistani und andere Menschen.

Und ich danke allen, die wenigstens versuchen, etwas dagegen zu tun ...

der Hans Kahle von 1960

Freitag, 2. September 2011

Im Heute das Morgen



Als sie in den Hörsaal gedrängt wurde, kam ihr, zum wievielten Mal schon, der Gedanke, ihre Haare zu färben. Es war doch die natürlichste Sache der Welt. Rötliche Haare zu haben hob sie aus der Masse heraus. Wenn sie das gewollt hätte. Aber will sie das? Die Jungs behandelten sie wie eine besondere Beute. Wer bekommt sie zuerst in die Kiste? Ein Glück, dass Myra sie gewarnt hatte! So war sie der Blamage mit Tommy entgangen. Die Kerle waren eben doof. Sie begriffen nicht, was sie an ihr gehabt hätten.
Jenny musste aufpassen, um nicht abgedrängt zu werden. Nein. Myra hielt zwei Plätze frei. Ganz oben. Für Peggy und sie. Obwohl … Mit Myra konnte jede Veranstaltung gegen den Baum gehen. Die fand immer etwas dazwischenzureden. Das lenkte ab. Aber die Semesterarbeit musste wenigstens ein „befriedigend“ bringen. Dann bekam sie die Anwesenheit für das Semester „Praktische psychologische Probleme extraterrestrischer Lebensentwicklung“ bescheinigt. Mehr wollte sie nicht. Wenn sie im kommenden Jahr an einem College studieren wollte, brauchte sie neben dem Notendurchschnitt, der kein Problem für sie war, den Beweis für das Interesse an 50 Nebenfächern. Das war viel. Eigentlich zu viel. Und extraterrestrische Lebensentwicklung interessierte sie nicht wirklich. Aber viele der Mitschüler fanden es schick. Da hatte sie die größte Chance, nachher noch ein paar Gedanken zu korrigieren. Und diese Lesung war auf jeden Fall etwas Außergewöhnliches. Da ließ sich ein Dozent der Akademie zweimal im Jahr für die Schüler ihrer Kleinstadt dazu herab, vier Stunden Vortrag zu halten. Weil er selbst einmal hier geboren und obwohl er tatsächlich schon im All gewesen war. Na, vielleicht hoffte er, so schneller einen eigenen Lehrstuhl zu bekommen.
Die Plätze waren echt gut. Jenny versuchte, dieses unsinnige Gefühl wegzudrücken, gleich ginge eine Prüfung los. So also sah ein echter altehrwürdiger Hörsaal aus. Kein Computerkabinett mit Simultanarbeitsplätzen, sondern ein riesiger Raum mit Bänken, die aufsteigend angeordnet waren. Von den schätzungsweise 400 Plätzen waren inzwischen etwa 300 belegt und noch immer spuckten die beiden Doppeltüren schubsende Schüler in den Saal. Eigentlich war das eine ideale Gelegenheit. Wann konnte man sonst schon die Jungen beobachten, ohne dass die sich benahmen, als müssten sie was vorspielen? Eben ohne auf den Kontakterfolg mit ihr fixiert wie an den Monitoren. Nicht so unmittelbar vor dem Satz HAST DU ABER SCHÖNE BLAUE AUGEN! Wäre Tommy nicht gewesen, Jenny hätte es für ein gelungenes Kompliment gehalten, sich zumindest darüber gefreut. Diese Augen war neben jenen RÖTLICHEN Haaren das auffälligste Erbstück von ihrer Mutter und die war auch jetzt noch eine aufregende Frau. Was andere Mädchen mit extra eingesetzten Haftschalen zu imitieren versuchten, war bei Jenny Natur: Ihre Iris gab im Normalfall einen ungewöhnlich breiten Kreis blau leuchtenden Himmels preis. Aber wahrscheinlich hielten es eben alle für künstlich.
Noch drei Minuten. Jener legendäre George Buckinns hatten seinen Platz eingenommen. Offensichtlich nervös spielte er am Beamer herum. Wunderbar: Der würde also Zusammenfassung und Struktur des Vortrags an die Wand werfen. Jenny brauchte nur Fotos zu machen und sich ein paar spezielle Ausdrücke des Dozenten zu notieren.
Eigentlich war der Typ … Jenny hätte nicht sagen können, was sie von dem Mann halten sollte. Für einen, der schon eine Interstellarreise und erste Jahre an der Raumakademie hinter sich hatte, sah er extrem jung aus. Anfang 40 vielleicht. Jünger als Dad. Das war wahrscheinlich den Kälteschlafphasen geschuldet, die er durchlaufen hatte. Er hatte seinen Flug zu einer Zeit angetreten, als die Astronauten zum ersten Mal ihre Schlafsärge im Wechsel selbst einstellen durften. Sieben Frauen, sieben Männer. Keine Paare am Anfang. Ob sie sich fänden, brächte erst die Gemeinschaft der Flugzeit. Zufälle. Denn sie hatten sich geeinigt, dass immer nur zwei bis drei Besatzungsmitglieder den irdischen Wechsel von Tag und Nacht simulierten, den Flug überwachten. Es konnte also Jahre dauern, bis die eine den oder die anderen fand, die besonders mit ihr harmonierten. Dass das Team theoretisch gut harmonieren würde, hatten Tests an dafür entworfenen Geräten ihnen bescheinigt. Man hatte sie auf eine Reise von etwa 20 Jahren im Wachzustand und einen allgemeinen 100jährigen „Dornröschenschlaf“ eingestimmt. Da gehörte es dazu, sich gegenseitig zu testen, zu harmonisieren und zu verwerfen. Das gehörte zum Programm. Es konnte ja sein, dass sonst absolut nichts geschah. Ihr Hauptziel war es, das Programm zur automatischen Erkennung von Lebensformen zu testen. Was nutzten denn Sonden, deren Untersuchungsprogramme unter Umständen einen Mangel enthielten, sodass sie entweder lauter Zivilisationen meldeten oder an Planeten vorbeiflogen, die vielleicht eine zweite Erde waren oder werden konnten? Sicher konnte man nur sein, wenn man die Untersuchungsergebnisse vor Ort verglich.
Eigentlich erzählte er ganz interessant. Er schien auch nicht so ein ichbezogener Schnösel zu sein. Seine Vorstellung hatte er auf den Namen beschränkt und sich Spielereien um sein Alter verkniffen. Wenn man seine Kältschlafzeiten mitrechnete, dann hatte er schon über 320 Jahre auf dem Buckel.
Interessant, ja, aber … Jenny hätte nicht sagen können, warum sie trotz allem nur mit halbem Ohr hinhörte. Irgendetwas schien um sie herum zu knistern und sie darauf einzustellen, dass das Wesentliche des Tages noch kommen würde. Auch die erste Pause ging ohne etwas vorüber, woran sie sich später erinnert hätte.
Der Wandel trat unmittelbar nach der Pause ein. Wahrscheinlich war der Dozent selbstsicherer geworden. Vielleicht wegen der vielen Möchtegern-Studenten, die ihn in der Pause mit Fragen bedrängt hatten. Er hatte sie auf die letzten 90 Minuten vertröstet und sich die Fragen aufgeschrieben. Auf jeden Fall erwartete er den Moment gelassen, in dem endlich Ruhe und Aufmerksamkeit herrschten. Geherrscht hätten, wenn nicht ... George Buckinns ließ langsam seinen Blick über die Reihen schweifen. Gelassen erst. Dann stockte er plötzlich. Für das, was er dann tat, gab es nur einen Ausdruck. Er starrte. Er starrte Jenny an. In seinem Blick lag so viel Verwunderung, als hätte er zum ersten Mal im Leben etwas Unmögliches gesehen. Er wurde sich gar nicht bewusst, dass die ihn erfassende Schockstarre bereits von den ersten Schülern bemerkt wurde. Immer mehr drehten sich zu Jenny um, deren gesamtes Blut aus dem Körper in die Gesichtshaut zu fließen schien.
Da war der Moment vorüber. „Tja, meine Damen und Herren, wo waren wir stehn geblieben?“
Allmählich richteten sich die Blicke der Schüler wieder auf den Mann vorn. Der aber schien trotzdem sein Konzept verloren zu haben. Immer wieder schweifte sein Blick zu dem Platz, auf dem Jenny saß. Blick um Blick, Blick für Blick. Jenny hatte längst ihre Fotos vergessen, ihre Aufzeichnungen, ihr eigentlich begrenztes Interesse. Sie war sich sicher, jedes Wort, das dieser Mann da vorn sprach, war an sie gerichtet, und sollte es nicht an sie gerichtet sein, so nur, um eben das zu verbergen. Der Dozent wiederum hatte vergessen, was er wie hatte theoretisch noch hatte herleiten wollen. Gefangen in Erinnerungen erzählte er und es war ganz nebensächlich, dass 400 Augenpaare gebannt auf ihn gerichtet waren, dass 400 Schüler ihn hörten.
„ … Unser Sonnensystem war längst nicht mehr mit bloßem Auge auf der Projektionswand zu erkennen. Sie müssen dazu wissen, dass der wichtigste Raum im Schiff die Brücke war, eine gewaltige Ansammlung von Konsolen und Monitoren und eben jenem Hauptschirm. Dort wurde nicht wirklich gesteuert oder so, aber dort wurden alle Messwerte zum Flug und den Objekten, denen wir uns näherten, zusammengetragen. Der Hauptcomputer entschied, ob eine ungewöhnliche Abweichung auf den Schirm kam. Wenn er keine entdeckte, war dort die vor uns liegende Sternenwelt zu sehen – nach Wunsch mehr oder weniger nahe herangezoomt. Ich hatte gerade den Dienst übernommen. Boris hatte sich zum Schlafen gelegt, also zum einfachen Schlafen im 24-Stunden-Rhythmus. Jana hatte Freiwache. Ich nahm an, dass sie sich entweder in der Messe mit einem unserer Spezialmenüs langweilte oder im Sportraum ihre Fitness pflegte. Sie hatte mir die Wache übergeben. Unser Schiff befand sich im Inneren eines nicht total uninteressanten Sternensystems. Das heißt, Intelligenz ähnliches Leben erwarteten wir keins. Aber immerhin flogen wir in ein Sonnensystem mit Planeten hinein. Wir hatten bereits einen Gasriesen passiert, unseren Jupiter 24, und näherten uns dem Lebensgürtel des Systems. Es war an sich nichts Sensationelles, ein weiteres System mit einem Bereich entdeckt zu haben, in dem sich Leben entwickeln konnte, kein Grund, von der gewohnten Routine im Schiff abzuweichen. Gerade noch lohnend genug, für Vergleichszwecke Vermessungen durchzuführen. Ich ließ gerade den Computer den dritten Planeten bewerten. Unser großes Gehirn meinte, dass das Planetensystem eine Lebenserwartung von 9,5 Milliarden Jahren hatte. Der Planet vor uns war 3,4 Milliarden Jahre alt. Somit konnten auf ihm – sollten sich die Theorien einer gesetzmäßigen Entwicklung der Materie als richtig erweisen – Vor- oder Frühformen von Leben existieren, da er sich am günstigsten Teil des Lebensgürtels befand. Zum einen war unser Ergebnis interessant für Raumexpeditionen wesentlich späterer Zeiten, zum anderen war wichtig herauszufinden, woran es liegen konnte, dass die Entwicklung des Lebens dort eventuell ein ganz anderes Niveau als das erwartete hatte.
Wir hatten uns inzwischen jener Proto-Erde genug genähert, um in seinen Orbit einzuschwenken. Wir wussten um zwei Monde und um das Vorhandensein einer Atmosphäre mit Sauerstoff.
Ihnen ist sicher bekannt, dass eine relativ konstante Sauerstoffanhäufung – und sei es nur ein Anteil von unter drei Prozent – auf Basis astronomischer, sprich anorganischer Vorgänge nicht möglich ist. So etwas gibt es nur dort, wo auch Leben ist. Leider war in unserem Fall aber nicht genug Sauerstoff da für eine Lebensform mit uns vergleichbarer Atmung. Also liefen Routinen ab, wurde niemand zusätzlich geweckt. Ich spielte am Zoom. An sich konnte ich den Schirm so einstellen, dass er die Planetenkugel zeigte mit ihren vielen noch nicht definierten Flecken, aber wir waren schon deutlich dichter dran. Daneben ließ ich Wahrscheinlichkeitsrechnungen laufen. Hatte der Planet eine stark gegliederte Oberfläche: 98 Prozent ja. Wurden die optischen Wahrnehmungen durch Wolken gestört: 80 Prozent ja(steigend). Bestanden diese Wolken aus Wasserdampf: 41 Prozent ja(steigend), Gab es an der Oberfläche Meere oder Ozeane 46 Prozent ja(steigend) Entwickelte sich darin Leben 37 Prozent ja(schwankend). Mein Auge war verärgert über die Vorsicht des Computers. Ich war mir sicher, zwischen den Wolken eine Oberfläche mit zwei Ozeanen und dazwischen liegenden Landmassiven entdeckt zu haben. Da geschah es. Erst einmal ohne sichtbaren Grund schlug meine Stimmung um. Ich hatte plötzlich bessere, dann einfach gute Laune, schließlich hätte ich meinen Zustand vergnügt, berauscht, euphorisch genannt. Eine reine Füllung Freude. Ja, da entwickelte sich etwas. Ein Gefühl, ein Wissen. Da würde etwas leben, anders und ähnlich zugleich, schön, vielleicht nicht in unserem Sinne, sondern in sehr urtümlichen, aber erhabenem. Lauter Bilder. Ja. Inzwischen sah ich Bilder. Erst nur geometrische Spielereien, Abstraktes, dann Blätter, Bäume, Bauten. Etwas, was ich Menschen genannt hätte. Ich wollte … Ich weiß nicht, was ich wollte. Bis zu diesem Augenblick hielten sich zwei widerstreitende Eindrücke die Waage: Das Wissen, dass das alles nicht real sein konnte, Visionen aus Licht, und dass ich die Anderen hätte rufen müssen, aber ich konnte mich nicht rühren. So wie ich in schneller Folge etwas sah, was zeitlich weit voneinander entfernt liegen musste, so schien ich außerhalb aller Dimensionen zu sein. Ich konnte nichts tun, was nur eines Momentes echter Zeit bedurfte.
Aber ich war doch Forscher! Ich war doch mit einem Auftrag ins All geschickt worden. Ich musste diese Bilder festhalten. Die Anderen mussten sie sehen. Verifizieren. Der Computer würde sie speichern für die Menschheit. Aber erst einmal …
Diese tiefe Freude ließ ein wenig nach. Jana … Nicht, dass ich damals daran gedacht hätte. Später kam ich auf die Idee, die Schwankungen in der Stärke des Gefühls erwuchsen wahrscheinlich aus der Nähe der Wasser- und Landmassen unter mir. Hätte ich ausschließlich Land unter mir gehabt, wäre dieser Rausch wohl vergangen, mit allein Wasser wäre ich wohl durchgedreht. Immer war von beidem etwas da und meine Sinne flogen. Ich hätte die Welt umarmen wollen. Die da unten und meine Menschenwelt. Jana … Und da passierte die nächste Verwandlung. Ich wusste sofort, das da war nicht eine Vision der Welt, die da unten einmal sein würde. Auf dem Schirm sah ich etwas, was ich einmal mit meinen Augen gesehen haben werde. Ja, ja, ich sah mich etwas sehen. Also ich sah nicht mich, sondern ich sah, was ich sah. Es war so wahnsinnig schön. Dabei hätte ich mir nie, wirklich nie vorstellen können, dass ich das einmal schön finden könnte. Da lag eine Frau im Bett. Ich saß daneben, stand auf, setzte mich wieder. Und diese Frau entband gerade ein Baby. Und ich wusste, es war mein Baby. Und ich sah es ans Licht drängen. Und ich hörte die Frau gepresst atmen, sah ihren Bauch und ich fand diesen Bauch sexy. Und ich wollte ihn küssen, diesen Bauch, und legte doch nur meine Handfläche darauf, irgendwie mit der Hoffnung der Urahnen, aus der Schlangenbisswunde das Gift saugen zu können, ihr so allen Schmerz zu nehmen, damit auch sie nur Freude sei. Und dann hatte ich plötzlich das Baby in den Händen, das allerschönste Mädchen, das je auf der Erde geboren worden ist, und ich legte es der Frau an die Brust. Und sie sah mich an mit ihren riesengroßen blauen Augen und wartete, bis ich ihr ihre Haare nach hinten strich, ihre rötlich leuchtenden Haare, die mit Schweiß an die Stirn geklebt waren. Auf einmal zeigte der Schirm nichts Anderes mehr als strahlend blaue Augen und ich empfand nichts außer einem so intimem Glück, dass ich einen unbeschreiblichen Schreck bekam, als an derselben Stelle das vorige Bild der Planetenoberfläche zu sehen war. Ich wischte mir über die Stirn. Schweißtropfen. Noch immer hätte ich mich nicht gewundert über einen schrillen Babyschrei. Aber dann … Eines Tages werden Sie es nachempfinden, dieses Aufwachen. Diese Peinlichkeit.
Ich war doch krank, oder? Jeder hat schon einmal mehr oder weniger gut erdachte Geschichten über Raumkoller, Psychosen und Ähnliches gehört. Sollte mich so etwas erwischt haben? Dann kam mir ein anderer Verdacht. Jana war für alles, was nicht rational zu erklären war, viel zu vernünftig. Boris hingegen entwickelte mitunter einen sehr zweifelhaften Humor und er war mit Abstand der beste Programmierer im gesamten Team. Sollte er die Zeit genutzt haben … Sofort fiel mir auch ein, dass es einmal um Frauen und das Kinder kriegen gegangen war und ich ihm erzählt hatte, dass ich mir nichts Unheimlicheres vorstellen könne. Dass ich nichts Abartiger wüsste als Männer, die bei einer Entbindung dabei waren.
Na warte! Von wegen schlafen …
Was soll ich sagen? Es gab richtigen Ärger, als ich ihn weckte. Ich hatte ihn wohl doch aus dem Tiefschlaf geholt. Seltsamerweise scheute ich davor zurück, ihm den Grund zu gestehen. Ich behauptete einfach, das Bild auf dem Hauptschirm habe geflackert. Und bevor der ganz ausfiele …
Anfangs war Boris echt sauer. Was ich denn wolle? Alle Instrumente funktionierten einwandfrei. Dann jedoch las er das codierte Datenstromprotokoll. Er wurde immer unsicherer. Ich verstand die Ausdrücke nicht, mit denen er um sich warf. So wie er es dann für Steinzeitmenschen auf der Datenautobahn wie mich zu übersetzen versuchte, müsse eine externe Quelle ohne definierten Zugang und ohne Zugangsberechtigung unter Umgehung aller Sicherheitsroutinen kurzzeitig Unmassen an Impulsen eingespeichert haben. Eigentlich hätten komplexe Bilde in 3D-Format dabei entstehen müssen. Ich könne froh sein, dass es beim Flackern geblieben war. Aber sollte so etwas noch einmal auftreten, müssten wir auf jeden Fall auf direktem Weg zurück. Er würde die gestörten Sequenzen löschen. Niemand solle uns vorwerfen, wir hätten eine Gefährdung ignoriert. Dann aber sagte er etwas, was ich, wenn auch mit viel handfesterem Grund nur bestätigen konnte: Dieser Planet sei ihm unheimlich. Wir kommen hier sowieso zu keinen neuen Erkenntnissen. Wir sollten zusehen, dass wir weiter kämen!
Bis gestern schlug ich mich mit drei Erklärungen herum, die mir alle nicht recht waren. Die vernünftigste: Ich hatte irgendwelche Halluzinationen, war, wie auch immer, erkrankt. In diesem Fall hätte ich leichtfertig das ganze Unternehmen gefährdet, denn es hätte ja schlimmer werden können mit Schäden für alle.
Oder irgendwo im Rechnersystem hatte ein Virusprogramm gewirkt oder eine elektromagnetische Anomalie oder was auch immer. Dann träfe Boris die Schuld, weil er von uns der einzige war, der so etwas hätte erkennen und beseitigen können und müssen. Ich hätte sogar optimal reagiert, als ich ihn als ersten benachrichtigte. Allerdings spricht die Kombination meines unbeschreiblichen Hochgefühls und der verschiedenen Bilder dagegen.
Die unheimlichste Erklärung wäre die, dass die gewaltige ursuppenartige Masse ein Gesamtbewusstsein und weit reichende direkte Kommunikationswege entwickelt hatte. Was dies für künftige Raumflüge bedeutete, wage ich nicht auszumalen.
All diese Überlegungen haben heute eine neue Facette bekommen. Ich glaube, ich habe die Frau von dem Bildschirm gesehen. Ich habe sozusagen jemanden wiedererkannt, den ich in der Wirklichkeit noch nie gesehen habe. Bitte erlauben Sie mir, auf diese Geschichte nicht weiter einzugehen, bevor ich nicht auch die weiteren Details der Vision wiedererkennen konnte.“
Für einen kleinen Moment starrten die Schülermassen George abwartend an. Da musste doch noch etwas kommen … Dann aber drehten sich einige verstehend zu Jenny um und was in den folgenden zwei Minuten gesagt wurde, ging im Trampeln von Schülerbeinen unter. Irgendwie waren sie eben doch nicht so erwachsen, wie sie gern hätten gesehen werden wollen.
George wischte sich Schweißperlen aus dem Gesicht. Wer ihm sehr nahe gestanden, hätte geahnt, dass er einen Teil seines Vortrags wie unter hypnotischem Zwang gehalten, dass er nicht einmal bestätigt hätte, was er gesagt hatte. Aber in dem Saal stand ihm niemand nahe. Noch nicht.

Donnerstag, 1. September 2011

Zwei Jungen, die beinahe die Welt retteten




Er schien das Ehrwürdige dieser Burg, auf der sie ihren Abschied begehen durften, überhaupt nicht wahrzunehmen. Im Gegenteil. Wie ein großer freier Redner hüpfte er auf die breite steinerne Außenmauer und sah, anstatt den möglichen Sturz in die Tiefe zu bedenken, zum blassblauen Himmel hinauf. „Bestimmt schauen sie uns uns jetzt zu. Sie sind schon da. Glaub mir doch!“
„Klar, vor allem dir sind sie nah. Also wenn die nichts Besseres zu tun haben, dann tun sie mir Leid!“
Die beiden Jungen hätten verschiedener nicht sein können. Der eine trug eine Brille und hatte sein Gesicht glatt rasiert. Die Haare auf dem Kopf hatte er so kurz schneiden lassen, dass sie als Borsten wie eine Vergrößerung des kantigen, aber gnadenlos ordentlichen Gesichts wirkten. Egal, ob man ihn von weitem oder von sehr nahem betrachtete, war man sich sicher, dass der Junge nur sehr gute Noten in der Schule haben konnte und berauschenden Mitteln bestimmt ablehnend gegenüberstand. Als ein Strebergesicht, wie es typischer nicht hätte sein können. Der Kopf des anderen schien etwas zu groß geraten. Überhaupt war irgendwie alles nicht ganz so, wie es wohl hätte sein sollen. Eine Kugel schien vor ihrer Einweihung kurz von drei Seiten mit einem flachen Gegenstand aus ihrer eindeutigen Form gebracht worden zu sein. Überall war sie mit mal gelockten, mal mit gekräuselten Haaren bewachsen, die nirgendwo den Charakter einer Frisur, eines Bartes oder von etwas Anderem annehmen wollten, was einen Namen verdient hätte. Und alles deutete darauf hin, dass der Junge es irgendwann aufgegeben hatte, sich zu frisieren. Von diesem Irgendwann an hatte er sich gebilligt, wie er war. Auch dass er von seinen Mitschülern nicht akzeptiert wurde, hatte er in Kauf genommen. Er hatte in all den elf Schuljahren immer gerade so das Klassenziel erreicht. Kein Lehrer hatte ihn beachtet, denn er hatte auch nicht gestört. Er war Fleisch gewordener Satz „Lasst mich doch endlich in Ruhe“, sehr stiller Protest. Warum hätte man ihn länger in der Schule behalten sollen? Irgendwie hatten ihm wohl alle Lehrer bei den Abschlussprüfungen unbewusst Suggestivfragen gestellt, die er störrisch nicht richtig, aber auch nicht falsch beantwortet hatte? Musste man sich das noch ein zweites Mal antun? Er hatte all die Jahre so etwas wie den vierten Bodyguard zu einem der Alphamännchen in der Klasse abgegeben. Doch die Burg bot nur Zwei- oder Vierbettzimmer. Als fünfter hatte er nirgendwo hinein gepasst - so wie der Streber, der in Gedanken schon in jene Schule ging, die seines Vaters Zukunftsvisionen ihm zugedacht hatten.
Als am ersten Abend jener Streber seine Konzentrationsübung gemacht hatte, an den mild blauen Nachthimmel zu schauen und an Nichts zu denken, also eigentlich daran zu denken, dass er an nichts denken wollte, da waren unerwartete Worte in seine ungeschützten Gedanken gedrungen: „Irgendwo da draußen gibt’s noch mehr solche wie uns.“
Jeder andere Schüler hätte sicher einen Witz draus gemacht. So in der Art „Noch so einer wie du? Kann ich mir nicht vorstellen.“ Oder er hätte seinen Unmut gezeigt wegen der Störung. Doch die Überraschung war zu groß. Der da gedacht hatte, nur er selbst könnte hoch fliegende Gedanken entwickeln, schluckte erst einmal. Sein Schweigen klang wie eine laute Zustimmung.
„Was mögen die für Technik haben? Nehmen wir an, sie fliegen von einem Planetensystem zum anderen. Dann müssten sie ja technisch weiter sein als wir.“
Der Sprecher mit dem Kräuselkopf hieß Skworizschesko´opoli, was soviel hieß wie Wolfgang, der jüngste, wenn man den Skwori ihrer Jagd in Rudeln wegen zubilligte, dass sie außerhalb des Planeten vielleicht Wölfe geheißen hätten. Er hatte instinktiv seine Hand auf jene Stelle seines Kleides gelegt, unter der sich die – natürlich in seinem Alter noch leere – Bauchtasche befand. Vielleicht, weil er auf seine dort besonders muskulösen Sprungläufe so stolz war, hüpfte er jeweils drei Tatzen vor und zurück, rauf auf die Mauer und wieder runter. Die anderen ehemaligen Mitschüler feierten in den großen Zimmern die Erfolge ihres zweiten Ferientages. Es waren schließlich die letzten echten Ferien ihres Lebens und das musste gefeiert werden.
Wolfgang und Bernhard – eine sicher erlaubte freie Übersetzung für Oschtschotkich, denn wenn man bei uns seine Koseform Otscho nutzte, dann dächten Kenner ja eher an eine Tangofigur als an einen Jungen aus einer fremden Galaxie – also die beiden schwiegen einen Moment tiefsinnig nebeneinander her.
„Weißt du, was ich nicht verstehe?“ unterbrach Wolfgang wieder die Stille. Es lag die Sicherheit in seiner Stimme, es konnte gar keine andere Antwort als NEIN geben. Er setzte auch gleich fort, als hätte der Andere bereits mit nein geantwortet: „Wir sind biologisch auserlesen als die sozial höchst entwickelte Spezies im Weltraum. Die Lehre von Saúkastawilly ist doch überzeugend. Die Art, wie ein biologisches Wesen mit seinem Nachwuchs, Seinesgleichen und anderen Wesen in seinem Umkreis umgeht, wird durch die Funktionsweise seiner Kommunikationsorgane bestimmt. Das verstehe ich. Auch, dass diese Organe bei uns die höchste natürliche Optimierung erfahren haben. Dass sich die Schlüpflinge von dem Moment, an dem sie sich aus der Eihülle befreit haben, bis zu dem Zeitraum, an dem sie so selbständig sein wollen wie wir, jederzeit in die Bauchtasche von Mutter oder Vater begeben können, muss ja eine enge, ganz bewusste Beziehung zu den Eltern schaffen. Was aber festigt denn den Zusammenhalt der Gruppe mehr als die in ihrem Fluchtvermögen Eingeschränkten gemeinschaftlich zu verteidigen, den Schutzkreis zu bilden, notfalls Schlüpflinge selbst in die Tasche zu nehmen, obwohl es nicht die eigenen sind? Eine solche biologische Vorgabe musste doch den Gemeinschaftssinn unserer Vorfahren besonders stark ausprägen. Auch unsere Sexualität hat etwas einmalig Würdiges. Wir haben gelernt, dass große Teile der Tierwelt ihre Geschlechtsorgane in teilweiser Funktionsgemeinschaft mit Ausscheidungsorganen ausgebildet haben! Na ih! Nur unsere Entwicklungsvorfahren prägten solch idealen Mund aus mit dem Kehlkopf zur differenzierten Formung von Lautzeichen und der Kazikka beim Mann. Dazu solch eine lange und bewegliche Zunge, die beim Sprechen genauso nützlich ist wie beim Platzieren der Spermiten im Eileiter der Mädchen. Vorher das Protan nicht zu vergessen! Wie sollten denn anders gestaltete Körper Gefühle entwickeln? Wenn die Eierstöcke nicht als erstes von der männlichen Zunge mit etwas eingerieben werden, das die Eiproduktion auslöst? Unser Lecken ist als Strategie zum Geschlechterkontakt unübertroffen. Wir waren von Anfang an ideal! Wie war es möglich, dass wir so degenerierten? Oder kann man unsere Gesellschaft anders als degeneriert nennen? Auch wenn wir das nicht in der Schule lernen? Die Lehrer tun ja immer noch so, als gäbe es nichts Besseres als uns?“
„Die leben davon.“
Die drei Worte ließen sich noch zwischen den Wortschwall schieben. Aber sie verstärkten nur noch die Heftigkeit, mit der Wolfgang seine Rede fortsetzte, nun fast ununterbrochen begleitet vom Schwenken seiner Vorderläufe. „Genau. Die leben davon. Das ist es wohl: Dass es auf dem ganzen Planeten fast keinen Ky mehr gibt, der direkt für ein sinnvolles Produkt arbeitet. Anstatt weiter anständig die Aufgaben zu teilen, haben in der Vorzeit einige vorausgedacht, was andere machen sollten. Na gut. Die haben das gemacht und allen zusammen ging es besser. Aber irgendwann bekamen sie nicht mehr, was sie gerade brauchten, sondern etwas, was immer mehr nur dazu da war, es gegen Anderes einzutauschen. Also das Geld. Und man konnte sich vorstellen, welches Produkt, aber auch welche Arbeitsleistung man dagegen eintauschen konnte. Und manche haben die anderen Ky so überrumpelt, dass sie nicht nur so viele Arbeit Leistende kaufen konnten, dass ihr Geld davon immer mehr wurde, sondern sie haben mit einem Teil dieses Geldes auch noch Ky gekauft, die nichts anderes taten als immer wieder neu Mittel zu ersinnen, dass es so blieb wie es war: Die einen hatten, was immer mehr wurde, die anderen arbeiten, damit die ersten mehr hatten. Und alle freuten sich und die, die sich nicht freuten, wurden bestraft. Oder gekauft.
Inzwischen gibt es so viele Öle für die Kazikki, dass kaum noch ein Mann weiß, wie seine Zunge von alleine nass wird. Was haben wir heute? Lauter tolle Maschinen. Immer noch mehr. Nicht, dass wir uns freuen, wenn wir von unseren Liebsten Bilder machen können, nein, wir müssen das mit denselben Geräten schaffen, mit denen wir uns gegenseitig anrufen. Muss das sein? Vor allem: Muss das sein, wenn zugleich so viele Ky auf diesem Planeten verhungern? Weil sie einmal geboren wurden, um für andere zu arbeiten, aber ihre Arbeit heute von Maschinen gemacht wird? Zum Beispiel? Weil fast alles, was irgendwer braucht, von Maschinen hergestellt wird, die nur wenigen gehören? Jeder einzelne von denen nicht etwa etwas produzieren lässt, weil seine Produkte jemand braucht, sondern weil er wieder mehr Geld damit zusammenraffen möchte? Außer uns selbst haben wir keinen Feind mehr, der uns Ky gefährlich werden könnte. Aber wir werden uns immer gefährlicher. Die einen lassen immer neue Maschinen bauen, die das Leben anderer Ky und überhaupt beenden.“
Glücklicherweise hatte Wolfgang an dieser Stelle ein Problem mit dem Atmen. So konnte Bernhard endlich seine Frage loswerden, die ihn wohl schon eine Weile beschäftigt hatte: „Und wie willst du das ändern? Das ist doch der Fortschritt!“
„Das denken wir jetzt. Weil niemand mehr den Überblick hat. Alles ist wie es ist und die, die das Geld haben, immer einen Teil davon einsetzen, dass es so bleibt, dass nur ihr Geld mehr wird. Aber es gibt doch schon Maschinen, mit denen man überwachen könnte, wo was am sinnvollsten auf diesem Planeten produziert wird. Und jeder könnte sich an die Eingänge solcher Planungssysteme setzen und mitmachen, so lange wie er daran Spaß hat, für andere mit zu denken. Du, man brauchte gar kein solches Geld mehr – man könnte gleich anfangen, so viele Früchte zu produzieren, wie gebraucht werden, und dafür sorgen, dass sie dort ankommen, wo sie gebraucht werden. Es werden schon mehr produziert als gebraucht würden, aber ein Teil der Ky beschäftigt sich allein damit, die anderen, die ohne Geld von ihnen fern zu halten. Man braucht also nur denen, die schon so lange mit Geld, für das andere gearbeitet haben, Maschinen angeschafft haben, damit sie nachher mit nochmal Arbeit von anderen zum Schluss mehr Geld haben, zu sagen, dass niemandem etwas gehören darf, mit dem das geht. Und wer Anderes behauptet, bekommt kein Geld mehr dafür, weil denen, die sich so lange bereichert haben, dieses Geld weggenommen wurde. Und all die, die davon gelebt haben, dass alles bleibt wie es ist, bekommen nützliche Arbeiten. Felder bewässern zum Beispiel oder entwässern, wo das besser ist. Es soll ja niemand Angst haben, er wird unnütz.“
Da staunte der Streber. Er hätte sich kaum vorstellen können, dass der Wolfgang Sätze bilden konnte, in die mehr als ein Komma Platz gehabt hätte. Hier aber hatte er gerade Sätze mit wirklich sehr vielen Kommata gebildet, ohne sich zu verhaspeln. Und erst deren Inhalt! „Was du dir für Gedanken machst! Also ich bin da bisher nicht drauf gekommen. Bloß … Das klingt so einfach … Eigentlich müssten doch überall auf unserem Planeten Ky drauf kommen. Es gibt ja viel mehr, die nur arbeiten dürfen. Und da oben ...“ Er deutete vage in Richtung Weltall.“... haben sie wohl alle schon das Problem gelöst.“
Doch Wolfgang freute sich nur, endlich weiter reden zu können: „Eben das glaube ich nicht. Ich stelle mir das wie einen engen Spalt vor, durch den alle Wesen durch müssen, die so einen ähnlichen Kopf haben wie wir. Wenn nicht die, die die Verhältnisse verändern wollen und können, das in diesem kurzen Zeitraum geschafft haben, dann gibt es Verhältnisse, die diese Planeten allmählich zugrunde richten. Was weiß ich, was das für welche Maschinen oder so sein werden. Über uns fliegen ja schon welche, die uns überwachen und die wir gebrauchen, um einander Nachrichten zu schicken. Bald gibt es keinen Gedanken mehr, für den man dich nicht bestraft – und das für alle anderen unbemerkt. Und du arbeitest wie doof, bis es nichts Sauberes zu essen, trinken oder atmen gibt. Zuerst sterben solche wie wir … und zum Schluss die Ururenkel von denen mit Geld. Aber noch ist denen das egal.“

Weit oben im Orbit hatte eine Sonde das Gespräch erfasst. Eine umfangreiche Matrix identifizierte es als bedenklich aufrührerisch. Der Dienst, der die aus der Masse herausgefilteten Daten einer differenzierten Bewertung unterzog, war insbesondere vom Alter der systeminkompatibel Denkenden betroffen. Das Gespräch landete als Protokoll auf Ebene 3. Man entschied sich für unmittelbares Handeln. Der, der mit Codenamen Wolfgang erfasst worden war, wurde als Geisel bei einem Banküberfall Opfer des Schusswechsels zu seiner Befreiung. Der, der ihm so aufmerksam gelauscht hatte, machte Karriere im Management eines Großunternehmens der Datenlogistik. Es heißt, unter dem Einfluss von Rauschmitteln habe er seinen Kollegen gelegentlich ihre Dekadenz vorgeworfen, was ihm den Ruf als Sonderling erhielt. Seine dritte feste Beziehung zu einer Ky führte zu mehrfach gefüllten Taschen. Von da an hörte man ihn immer öfter davon reden, dass wer es nicht geschafft habe, eben mehr hätte arbeiten müssen.
Ob an der Theorie seines beinahe Freundes etwas gewesen war, erfuhr er nie. Im Alter von 79 Jahren überstand er ein Asche-Syndrom in fortgeschrittenem Stadium und schied aus dem Berufsleben aus. Zwei Jahre danach verstarb er. Es vergingen noch weitere 39 Jahre, bis die Atmosphäre des Planeten einen Kipppunkt erreichte. Die allmähliche minimale Erwärmung hatte die Verbreitung von Mikroorganismen gefördert, die lange in unbedeutendem Umfang für höhere Lebensformen giftige Substanzen ausschütteten, bis diese nicht mehr ausgefiltert werden konnten. Danach vermehrten sie sich sprunghaft. Trotz aller Bemühungen der Ky fand man keinen Weg mehr zu ihrer Eindämmung. Innerhalb von nur zehn Jahren waren alle höheren Lebensformen vom Planeten verschwunden. Da deren Überreste die Lebensgrundlage eines Teils dieser Mikroorganismen bildeten, verschwanden bald auch diese. Wären danach noch Ky am Leben gewesen, hätten sie festgestellt, dass die chemische Struktur der Planetenoberfläche einschließlich der Temperatur von circa 300 Grad über Flüssigwasser ungewöhnlich stark an die Zustände zu Beginn der dritten Existenzmilliarde des Planeten erinnerten. Sie hätten angenommen, dass nach weiteren zwei Komma fünf Milliarden Jahren der Planet wahrscheinlich wieder von höheren Lebensformen bewohnt sein könnte. Allerdings war dann nicht mehr mit der Herausbildung von intelligentem Leben zu rechnen. Deren Entwicklung wäre nämlich in die letzte halbe Milliarde Lebensjahre des Sternensystems gefallen, und da war von Natur aus mit immer lebensfeindlicheren Bedingungen auf dem Planeten zu rechnen.
Welch Glück. Es gab keinen Ky mehr, der das hätte feststellen können.