Mittwoch, 31. August 2011

Eine Reinigung



Er lächelte. Also das war noch wie in den Jahren zuvor. „Wasserschutzgebiet“. Dasselbe rechteckige Hinweisschild wie seit eh und je und daneben das dreieckige mit der Eule „Landschaftsschutzgebiet“. Nichts deutete darauf hin, dass inzwischen die Außenstation eines biologischen Forschungsinstituts eröffnet haben sollte. Im lokalen Werbeblättchen war ein kleine Artikel erschienen. Es wurde vor dem wilden Baden dort gewarnt. Man erprobe neuartige Methoden der Sauberhaltung des Wasserbiotops. Biologische. Solche, die alle Stoffe, die komplizierter als H2O waren radikal und schnell verarbeitet wurden.
Hinter Reinhard ruhte die Reihe der parkenden Autos am Straßenrand. Es waren eindeutig zu viel, als dass sie zu den Anwohnern gehören konnten. Schnell rüber über die Marienstraße. Nun ging es nur noch den schmalen Pfad weiter. Wenn ihm jetzt eine Familie im Gänsemarsch oder Radfahrer entgegengekommen wären, wäre er auf den Wiesenrand ausgewichen. Da kam aber niemand. Dafür stieß er auf den Hauptweg und der tauchte in ein strauch- und baumkronenüberschattetes Wegstück ein. Man musste schon wissen, wohin man wollte. Er wusste es. Nun kam die nächste Gabelung. Rechts die Strandecke für die Ghetto-Nackten, links der freie Strandabschnitt, an dem sich Nackte und Textilierte relativ harmonisch mischten. Vielleicht die Bekleideten eher weiter hinten, zur Insel hin.
Reinhard wählte den linken Pfad. Das hatte einen Nachteil: Er ging direkt auf den Müllpunkt zu.
Der Müllpunkt war ein typisches Produkt deutscher Bürokratie. Natürlich konnte es an dem See keine Badestelle geben. Wo keine Badestelle war, konnte es keine sanitären Einrichtungen, Müllsammelplätze und Ähnliches geben. Andererseits gab es diese Badestelle seit Jahrzehnten. Richtiger: Rund um den See wurde gelagert, um zu baden, an dieser Ställe nur geballt. Also hatte irgendwann einmal jemand am Beginn dieses Strandes, der kein Badestrand sein durfte, eine Stange eingepflanzt und an dieser Stange einen großen blauen Plastiksack befestigt. So hätte „man“ dort seinen Müll hineinstopfen können. Reinhard gehörte nicht zu den Eisbadertypen. So hatten immer schon Massen die Saison vor ihm begonnen. Jedenfalls kannte er den Platz um den Müllsack nur in immer gleichem Zustand. Etwa im Umkreis von zwei Metern lagen Joghurtbecher und Reste vergangener Zeiten so sorgsam verstreut, als hätten in irgendeinem der vergangenen Jahre Wildschweine die Hoffnung auf Fressbares zu spät aufgegeben. Vielleicht sollte dieser Anblick die eintreffenden Badelustigen von ihrem Vorhaben abhalten. Schon lange gingen die aber mit galantem Wegseh-Blick daran vorüber. Natürlich auch Reinhard. Diesmal aber hatte der blaue Sack einen Bruder bekommen, und jemand hatte sehr sorgfältig allen herumliegenden Müll beseitigt. Jedenfalls war kein einziges Teil zu sehen, das nicht natürlich gewachsen wäre. Allerdings waren so viele Badende am Rand des Sees verstreut wie immer.
Reinhard entledigte er sich seiner Kleidung. Achtlos platzierte er sie neben die ausgebreitete Decke und die Schuhe. Noch ein Kontrollblick: Es waren keine Hirsche in unmittelbarer Nähe. Nachdem er nicht mehr mit Frau und Tochter aufwarten konnte, war es ihm eine echte Peinlichkeit, selbst für ein Hirsch gehalten zu werden. Aber sollte er deshalb etwa mit der Tradition des Nacktschwimmens brechen? Geballt traten die Hirsche auf der unmittelbar gegenüber liegenden Seite des Sees auf. Mitunter lungerten ganze Gruppen tief gebräunter nackter Männer miteinander plaudernd am Ufer herum, um ein paar auffällig unauffällige Blicke auf sich ausziehende junge Mädchen werfen zu können. Auf Reinhards Seite gab es auch diesen Badetyp männlich, alleinstehend und ab 40 Jahre alt. Aber hier achtete wenigstens jeder auf ausreichenden Abstand zum nächsten. Alles war wie alle Jahre zuvor. Und an die Boxershorts der jungen Männer, die Reinhard für echte oder verkappte Russen hielt, hatte er sich gewöhnt. Er holte das Taschenbuch heraus, das ihm seinen Mix aus Bücherlesen am Sonnengrill und Nachbarschaftsstudien erlaubte. Irgendwann dann war seine Haut vorn, hinten, rechts und links etwa gleich heiß. Zeit, sich abzukühlen.
Zuerst kam noch der Gang ins Buschwerk der Verdauungsentsorgung wegen. Dann hieß es, langsam ins Wasser eintauchen. Der See bot eine besondere Wahlmöglichkeit: Bei windigem Wetter hätte Reinhard die kurze Strecke quer zu den Hirschen durchschwimmen können. Der See war aber relativ lang gestreckt und Reinhards Klassiker war es, die Längsstrecke auf der Hirschseite entlang zu schwimmen, dann an dem reinen Textilstrand an der anderen Seespitze vorbei und schließlich auf der anderen Seite der Insel zurück, so etwa 1000 Meter ruhiges Brustschwimmen als sportlichen Sommerhöhepunkt. Da konnte er sich nachher einen Pluspunkt in persönlicher Gesundheitsvorsorge anschreiben. Allerdings wagte er diese Tour immer erst, wenn er schon seiner Form sicher war. Diesmal schwamm er auf die andere Seite und dann immer am schmalen Sandstrandstreifen entlang. Eine Weile war die in ausreichendem Abstand vorüber schwimmende Entenfamilie der einzige Höhepunkt dieses Badeausflugs. Reinhard bemühte sich, kein Wasser in Mund, Nase oder Ohren zu bekommen. Mitunter war er einem schwimmenden Gewächs begegnet, das sehr verdächtig an halb zerfallene Darmausscheidungen erinnerte, und auch sonst wagte er sich nur deshalb in dieses Gewässer, weil er um seine widerstandsfähige Haut wusste. Insofern irritierten ihn die beiden Jungen, die begeistert etwas ins Wasser warfen, eine Fütterung, die sich weder an Enten noch an Schwäne richtete. Von jenen Wesen, die sonst ohne Böses zu ahnen, ins Wasser schissen, war keines zu sehen. Als Reinhard näher heran war, sah er es: Dort schwammen Fische! Reinhard kannte sich mit den Arten nicht aus. Es war auf jeden Fall ein Schwarm mit Tausenden Tieren. Manche hatten noch Stichlingsmaße, einige hätten sich aber schon gut in einer deftigen Fischsuppe ausgemacht. Die, die länger als etwa zehn und breiter als vier Zentimeter waren, fielen durch golden schimmernde Schuppen auf. Reinhard machte eine kurze Pause. Irgendwie hatte der Anblick des Fischlebens etwas Beruhigendes. Hübsch sahen sie aus und dass sie in diesem Wasser wirklich lebten und sich vermehrten, war doch ein positives Zeichen. Und noch ein recht unschuldiges Seeerlebnis erheiterte ihn. Fast schon am Ende des Sees angekommen, wurde er von unten gestreichelt. Unmengen an Wasserpflanzen, irgendwelcher Tang oder was auch immer strebte dem Licht und in diesem Fall Reinhards Körper entgegen. Sofern er darauf achtete, dass sich seine Füße nicht darin verfingen, krabbelten sie beim Überschwimmen den Bauch abwärts. Schade eigentlich, dass er die Stelle schon verlassen musste.
Nein. Musste er nicht ganz. Er konnte ja diesmal auf der Strecke wieder zurück schwimmen. Dann umkreiste er eben nicht die doofe Insel.
Zur Halbzeit horchte er in sich hinein. Das Ergebnis stellte ihn zufrieden. Kaum Erschöpfung. Die Muskulatur hatte die ersten Anpassungsprobleme an die ungewohnte Belastung überwunden. Er hätte auch abkürzen und quer übern See schwimmen können. Aber ihn erwarteten ja Pflanzen und Fische. Und ein anderes Problem ...
Er wusste nicht, wie es den anderen Badenden ging. Bei ihm regte das Schwimmen in deutlich unter Körpertemperatur kühlem Wasser die Blasentätigkeit an, trotzdem er ja extra vor dem Start etwas dagegen getan hatte. Aber auch das hatte seinen Reiz. Bei dem ruhigen Wasser konnte er sich ganz darauf konzentrieren, die unbedeutende Menge des Natursekts in das Schwimmwasser auszustoßen.
Ah, das tat gut!
Das Gefühl änderte sich schnell. Hatte er schon den Tangteppich erreicht? Waren es Fische? Auf jeden Fall verwandelten sich die Teile seines Körpers, die nicht die Stromlinienform eingenommen hatten, plötzlich in einen Sender intensiver Impulse. Brennen. Stechen. Als ob sie eine Nadelkissenhand fest umschlungen hielte. Dieser Schmerz, ja, Schmerz hätte er es bei aller Überraschung durchaus genannt, endete schnell. Er spürte die Region noch, aber eher wie man etwas bei örtlicher Betäubung spürt. Also so eher nein als ja.
Eine schleichende Panik hatte Reinhard erfasst. Er warf alle Vorsätze über Bord. Nur schnell zurück. Nein, keine Armzüge wie beim Brustschwimmen, wo ihm das Wasser noch in die Augen hätte kommen können. Nur effektiv Zug für Zug schnell quer übern See.
Reinhard hatte das Gefühl, er spielte in einem Film über Schiffbrüchige mit. Das Stück Ufer, das er erreichen musste, wollte und wollte nicht näher kommen. Nur nicht umsehen! Selbst, wenn das der Beweis gewesen wäre, dass er eben doch viele Meter weiter war. Aber … Ganz ruhig! Schwimmen. Es ist nichts. Es ist nichts!
Mit der schnell einsetzenden Erschöpfung kam glücklicherweise ein vernünftiger Gedanke. Es wäre wohl das Blödste gewesen, durch offensichtliche Panik den ganzen Strand auf sich aufmerksam zu machen. Und es gab keinen Grund, jetzt auch noch das Ertrinken oder die öffentliche Blamage zu riskieren. Außerdem konnten Empfindungen im Wasser extrem täuschen. Wenn ihm da unten … das wäre viel schmerzhafter gewesen. Also ruhig weiter schwimmen!
Als Reinhard endlich die Füße auf Grund senken konnte, stellte er halb beruhigt fest, dass ihn niemand beachtete. Es waren nicht sehr viele Schritte zwischen dem Punkt, an dem das Wasser bis zum Bauchnaben reichte, und dem Platz auf der Decke, dem Platz, an dem Reinhard sich ein Handtuch um den Bauch wickeln konnte. Entgegen jeder Vernunft verwunderte ihn nun ein völlig abwegiger Gedanke: Er blutete überhaupt nicht! Er hatte gar keine offene Wunde. ER war nur einfach weg.
Reinhard war absolut nicht der Typ für Öffentlichkeit. So war ihm eher wichtig, dass er in keiner Beziehung lebte. Und dieses unerwartete äußere Ereignis nahm ihm die lästige Pflicht ab, sich um eine neue engere Beziehung zu bemühen. Er würde von nun an alle Situationen meiden, in denen jemand entdecken konnte, was er in der, richtiger, was er eben nicht mehr in der Hose hatte. Und gepinkelt, gepinkelt hatte er auch früher schon oft im Sitzen.

Dienstag, 30. August 2011

Liebe Kinder



(1)
Claudia heulte. Hemmungslos hatte sie den Zellstoff verbraucht. Doch es war nicht zu Ende. Ihr Ärmel hatten kaum das letzte Tränenwasser aufgesaugt, da trat neues an seine Stelle.
Nimm dich endlich zusammen, meinte die eine innere Stimme - wozu denn, antwortete die andere, es hört und sieht ja keiner.
Aber du musst Martin endlich antworten!
Aber wozu? Es hat keinen Sinn mehr.
Rein technisch gesehen hatte die Antwortstimme Recht. Martin hatte sie vor neun Monaten kontaktiert. Da hatte sie als noch ungewöhnlich attraktive 15jährige in die Webcam geblinzelt. Und das Bikinioberteil unter dem hautengen Top so geschickt ausgestopft, dass Martin prompt gefragt hatte und sie ihm stolz verkünden konnte „75 C ...“. So habe man das früher genannt und das finde sie ein gesundes Maß. Was hatten sie danach herumgeblödelt! Martin war eigentlich ein Glücksfall. Einerseits sah er richtig scharf aus, ein Typ, die Mädchen garantiert hinterher liefen, aber zugleich hatte er überraschend reif gewirkt trotz seiner 15. Verständig. Nicht so, wie die Jungen, denen Claudia bis dahin begegnet war. Er hätte vielleicht …
Nein, es war besser so. Als sie es zum ersten Mal bemerkt hatte, war Claudia jene Idee gekommen, wie sie gedacht hatte, die rettende. Sie hatte geschwindelt. Dass irgendetwas an dem Programm nicht funktioniere. Sie keine Ahnung habe was. Vielleicht sei es auch ein Problem des regionalen Netzanbieters. Sie habe die Reklamation abgeschickt und warte auf Antwort …
Dabei hatte sie einen Verzweiflungsanfall gehabt und so lange auf dem verräterischen Auge herumgetrampelt, bis der beste Techniker ihr nur noch zu einer neuen Webcam hätte raten können. Seitdem chatteten sie wie in der Anfangszeit des Internets. Der eine schrieb, verschickte seinen Text und wartete auf die Antwort des Anderen. Die Handynetze waren schon früh zusammengebrochen.
Später dann kam es Claudia so vor, als alterte sie mit jedem Tag um ein Jahr. Sie übertrieb natürlich. Sie hätte dann ja schon 280 Jahre alt sein müssen und das hatte es selbst in der besseren Vergangenheit nicht gegeben. Aber kam sie sich mitunter nicht so vor?
Hätte sie Martin nicht doch einweihen sollen? Hätte sie es ihm zum Beispiel damals schreiben sollen, als sie das erste Mal nicht mehr die Zehennägel lackieren konnte? Weil sie nicht mehr dort unten ankam? Vor Schmerz hätte brüllen mögen? Bei aller Vernunft … Martin war doch nur ein Junge … was verstand der von gesund glänzenden Nägeln und dem Ekel, den ihre Füße jetzt bei ihr auslösten?
Immerhin konnte sie sich mit ihm über Bücher austauschen. Er hatte selbst noch richtige gelesen, verstand, was drin stand, diese Probleme von Greisen, die weit älter geworden waren als 30 Jahre. Er hatte aber auch Verständnis, wenn sie ihm von Sanne und Tim berichtete. Obwohl er gar keine Geschwister hatte und seine Bekannten wohl auch nicht. Aber er gab sich große Mühe, ihr Tipps zu geben, was sie die beiden alles unterrichten sollte und wie. Richtig gute Tipps manchmal sogar. In der Schule wäre Martin bestimmt ein ausgezeichneter Schüler gewesen. Und das sowohl in Mathe, Physik, Deutsch, Englisch, Kunst und Sport zugleich. Eine tolle Mischung. Er hatte sogar Gitarre gelernt. Schade. Lieder beibringen ging nun nicht. Und Sexualkunde ging auch nicht. Was sollte sie Sanne alles erklären?
Tim war zwar nur 15 Monate jünger, aber mit seinen 8 Jahren hatte er noch kein Interesse gezeigt. Und am schlimmsten waren ja eigentlich Sannes Blicke, solche, wo es Claudia eiskalt den Rücken heruntergelaufen war und sie dachte, die weiß schon alles. Alles, verstehst du Martin, hatte sie geschrieben, alles …
Darauf war Martin nicht eingegangen.
Ach Martin … Es ist bestimmt besser, dass du mich so … wieder schluchzte Claudia auf, diesmal mit schmerzhafter Koketterie … so sexy in Erinnerung behältst. Was ist das schon für ein Leben, wenn man einen Millimeter Farbcreme auftragen musste, um noch als Frau wahrgenommen zu werden und nicht als Greisin. Obwohl … in den letzten Wochen war Claudia gar nicht mehr draußen gewesen. Sanne machte längst alle Erledigungen. Überhaupt blieb Sanne lange draußen weg in letzter Zeit, und sie lächelte nur so komisch still wissend in sich hinein, wenn Claudia fragte, wie sie zum Beispiel zu dem frischen Gemüse gekommen war. Wie viel wusste sie vom Leben? Zu viel, bestimmt zu viel!
War das seltsam. Nicht einmal hatte Martin ihr gegenüber die Krankheit erwähnt. Obwohl es doch nichts Wichtigeres gab auf der Welt. Alle redeten von nichts Anderem. Ahnte er, warum sie es nicht erwähnt hatte?
Ob er wohl Forscher werden wollte? Vielleicht ein Mittel erfinden, mit dem es endlich wieder ein richtiges menschliches Leben gäbe, also so eines mit richtigen Erwachsenen.
Und plötzlich ahnte Claudia, warum Martin nie auf die Wiederherstellung der Videoverbindung zurückgekommen war. Er war doch selbst in dem Alter. Vielleicht hatte er schon kurz, nachdem sie sich nur noch schriftlich verständigten und sie ihm ein paar Fotos geschickt hatte, am Computer gesessen, ihr Bild an den Monitor geklemmt, seinen Penis in der Hand. Die meisten Jungen machten das so. Und da hatte er vielleicht zum ersten Mal bemerkt, dass es nicht ging. Dass da etwas Schwabbeliges zwischen seinen Beinen hing und sich streicheln ließ und er konnte das gewagteste Foto von Claudia betrachten und es rührte sich nichts! Nichts! Das war vielleicht für einen Jungen noch viel schlimmer als ihr Altern als Frau. Denn noch, als sie schon aussah wie Ende 30, war sie eine Frau, nach der die Männer sich umdrehten. Martin war vielleicht schon längst kein Mann mehr, also vom Selbstgefühl, und er hatte es die ganze Zeit verleugnet, sich damit abgelenkt, dass er der großen Schwester Erziehungsratschläge gab. Dann hatten sie in den letzten Wochen also deshalb so viel miteinander gechattet, weil auch Martin kaum den Weg auf die Straße schaffte. Claudia versuchte sich den Jungen mit dem Gesicht eines Greises vorzustellen. Es gelang ihr nicht. Nein, es klappte einfach nicht, sich jenen Jungen, der damals Kopfstand vor dem Kameraauge gemacht hatte, um sich so mit ihr zu unterhalten, über den Rollator gebeugt vorwärts kämpfend vorzustellen. Wenn er denn einen ergattert hatte.
Gleich damals hätten wir uns treffen sollen, überlegte sie. Es hieß, Mädchen können schon beim ersten Mal schwanger werden. Und angeblich verzögerte eine Schwangerschaft den Verfall geringfügig. So hatte es Claudia irgendwo gelesen. Aber wo hätte sie entbinden sollen? Selbst vor Tausenden Jahren, als es noch keine Ärzte gegeben hatte, hatten erfahrene ältere Frauen den Jungmüttern zur Seite gestanden. Aber die wenigen Nachrichten, die es noch gab, ließen nur einen Schluss zu: Auf der Erde gab es keinen Menschen mehr älter als 20 Jahre. Und eine richtige Wirtschaft gab es auch nicht mehr, keine Forschung, keine Lehre, keine Perspektive. Und niemand wusste, was eigentlich jene Katastrophe ausgelöst hatte.
Zwei Jahre war Claudia noch zur Schule gegangen. Dann waren die letzten Lehrerinnen gestorben. Das hatte ihr irgendwie geholfen. Also die zwei Jahre. Vielleicht hatte sie das so zu Martin gezogen, obwohl er 3000 Kilometer entfernt lebte. Weil sie auch so gern lernte wie er. Weil sie von sich aus las. Weil sie alles wissen wollte, verstehen.
Sie hatte sich mehr als eine Erklärung für das, was geschehen war, zusammengereimt. Sie stellte sich vor, das war ein Virus. Alles, was die natürlichen Programme zum Lebensablauf von außen störte, konnte man Virus nennen. So etwas musste es sein, was die astronomische Alterung der Körper kurz nach Ende der Pubertät bewirkte. Wo dieser Virus hergekommen sein mochte? Wo es doch so etwas seit Jahrmillionen in der Natur nicht gegeben hatte? Claudia war sich sicher, dass ihn die Menschen selbst geschaffen hatten. Nach dem, was sie so gelesen hatte, konnte sie sich durchaus vorstellen, dass es eine absichtliche Schöpfung gewesen war. Sie hatten das Krieg genannt. Vielleicht angenommen, es beseitigt nur bestimmte Arten von Menschen, Rassen oder so.
Oder es war etwas Ungewolltes. Zum Beispiel Strahlungen, die bei damals schon vorhandenen Mikrowesen einen Sprung ausgelöst hatten. Und mit den vererbten Eigenschaften bestimmter Pflanzen und Tiere hatten sie experimentiert. Dabei übersehen, dass jede Hauptwirkung auch eine Nebenwirkung im natürlichen Gleichgewicht haben würde. Und sie hatten sowohl die chemische Zusammensetzung von Erdoberfläche und Luft verändert als auch die Temperatur. Aber das veränderte doch die Lebensbedingungen vieler Lebewesen! Die Entwicklung bestimmter Organismen wurde gefördert, bei anderen wurde sie gehemmt. Vielleicht … Vielleicht war jener schreckliche Virus, wenn es denn einer war, auch erst aus dem Zusammenwirken mehrerer solcher Faktoren entsprungen. Sie würde es nicht herausbekommen. Niemand würde es herausbekommen.
Plötzlich erfasste Claudia eine grausige Ahnung.
Okay. Sie war dran mit Schreiben. Hatte lange keinen Satz in den Raum geschickt. Aber in solchen Fällen hatte Martin bisher immer nachgefragt. Immer wenn sie ihn nicht verstanden hatte, schalt er sich, sich nicht verständlich genug ausgedrückt zu haben. Ach, diese Missverständnisse, die sich dann immer klärten, die waren so lustig.
Martin?
Klick. Ab.
Nein, das genügte nicht.
Maaaaaaaaaartin?????????
Klick. Ab.
Unbewusst betrachtete Claudia die letzten Sätze ihres virtuellen Wortwechsels. Die waren alle so belanglos. Etwas, was sich vielleicht 15- oder 16jährige schrieben.
Noch immer keine Antwort. Das durfte jetzt nicht sein! Vielleicht hatte Martin etwas vom Bildschirm geholt, ihn vom Schreiben abgehalten. Angezeigt war, er war noch online. Er musste antworten. Unbedingt!
Mit theatralischer Geste schrieb sie – es sah sie ja keiner und diese Formel hatten sie früher angeblich alle so gebraucht:
Ich liebe dich!
Einen Moment noch starrte sie auf den Bildschirm, als müsste gleich die Schrift auftauchen Ich liebe dich auch oder, noch besser Ich liebe dich auch, Claudia.
Dann hatte Claudia das Gefühl, die ganze dreidimensionale Welt wurde ein Monitor und das Bild darauf wurde Pixel um Pixel grau und dann schwarz.
Etwa zehn Minuten später ging die Wohnungstür auf.
„Claudi, guck mal, was ich hier habe! Komm schnell!“ Sanne hielt abwartend einen geflochtenen Korb hoch. Erdbeeren. Richtige rot leuchtende Erdbeeren. Tim hielt es nicht aus. Er lief voraus, hinüber ins Wohnzimmer, entdeckte die – wie er glaubte – schlafende große Schwester am Computer – wo sonst – gab ihr einen kräftigen Stubs von der Seite und verwundert verfolgte er, wie der Körper nachgab, auf den Teppich sackte.
Nun war auch Sanne neben ihm. Nur undeutlich hörte er sie sagen, was er undeutlich ahnte: „Unsere Claudia ist tot.“
Und als er lauter weinte: „Nein, Tim, du warst das nicht.“

(2)
Ich war so blöd. Ich konnt es mir doch denken. Eine Bande war´s. Von wegen Beerdigung … Es überleben nur Kinder. Die können sich nicht wehren. Das lädt ein zum Überfall.
Nun bin ich die Beeren wieder los. Ungewaschen. Der Darm soll ihnen rausfallen, diesen Dieben. Wenigstens mit seinem Penis kann der Chef nichts mehr anfangen. Tat das gut. Klar hat er mir ins Gesicht geschlagen. Bin in die Ecke geflogen. Aber die Anderen haben über ihn gelacht. Komm lass, hat einer gesagt. Bestimmt der neue Boss. Sah echt gut aus das Blut, wie es sprudelte. Die Wohnung ist trotzdem leer. Bis auf das Bett eben. Wo jetzt die roten Tropfen die Farbe wechseln im Licht.
Ach, Tim, konntest du nicht still sein? So solltest du zugucken. Ein Extraspaß. Ist aber anders gelaufen, der.
Nix mehr da zum Verticken. Ob Monika noch Arbeit für mich hat? Tims Gruppe ist zu. Die alte Hilde ist nicht mehr gekommen. Sie ist bestimmt gestorben. War fast so lieb zu uns wie Claudia. Wollte uns was beibringen. Wir werden trotzdem nur sterben. Das dauert ja nicht mehr lange.
Tim schläft so schnell ein. Der hat es gut. Früher hätte ich Puppen gehabt zum Spielen. Jetzt habe ich Tim geschaukelt. Nun schläft er. Da freu ich mich mal ein bisschen. Tim ist immer da, wenn ich ihn brauche. Früher haben sich Brüder und Schwestern viel gestritten. Tim kann ich immer streicheln. Nur zugucken darf niemand. Aber dafür ist ja niemand mehr da.
Tim will immer was spielen. Das geht doch nicht. Das Leben ist ein Spiel mit doofen Regeln. Nur für Tim spiel ich mit. Manche Regel versteht sogar er. Morgen spielen wir eben was ganz Neues. Wir entdecken die Welt. Vielleicht finden wir mehr solche wie uns. Hier in der Gegend gibt es außer Tims Gruppe nur Alte wie Claudia. Die sind alle fast tot. Afrika ist interessant. Aber zu weit. Wie sollten wir dort hinkommen. Wir versuchen es mit Deutschland. Weil uns hier alle verstehen. Die noch leben. Aber zuerst müssen wir Tschüs sagen zur Ostsee. Tim badet so gern drin. Er versteht meine Angst nicht. Wenn wieder Tote angeschwemmt werden? Im Wasser gibt es so viele hässliche Menschen. Die schwimmen sogar tot oben. Ich geh besser gar nicht mit an den Strand runter. Dann bleibt Tim nicht so lange. Dann langweilt er sich.
Mein Kopf! Mir tut der Kopf so weh. Kann ich endlich schlafen? Tim ist eine praktische Puppe. Er wacht schon nicht auf. Ich bin´s nur. Träum was Schönes! Ich bin ja bei dir.

(3)
Offenbar regnete es schon seit Stunden. Sanne lachte den Wolken entgegen. Gefährlich sei der Regen immer nur am Anfang. Dann sei er aufgeladen mit chemischen Substanzen, die die Bindehaut angriffen. Sie wolle doch nicht blind werden, oder? Egal, ob das stimmte. Sanne wollte nicht blind werden, aber jetzt bestand wohl keine Gefahr. Hoffentlich hielt die ¾ Tight, was sie versprach. Es wäre peinlich, wenn sie sich mit Wasser voll saugte. Und dann hielt vielleicht jemand und die ganze Zeit waren die Beine feucht und der Sitz. Die Regenjacke war sicher zuverlässig.
Aber was sollte sie sich Gedanken machen? Erst einmal mussten sie eine Bundesstraße erreichen. Erst die an der Küste entlang, dann weiter eine Strecke, die früher die Grenze ihres Heimatlandes gewesen wäre. Also Deutschland. Dort, wo man ähnlich sprach wie sie. Nicht, dass es vernünftig gewesen wäre zu trampen. Aber was sollte sie Vernünftiges tun? Einen Schienenverkehr gab es nicht mehr. Höchstens auf den automatisierten Strecken, aber da wohl auch schon nicht mehr. Wer es sich zutraute, fuhr in einem Auto der Ahnen. Und dann hatte er eben Glück oder er hatte keins. Es war immer Zufall, ob man auf eine Tankstelle traf und wenn, ob sie in Betrieb war. Die Batterien aufzuladen klappte oft ohne Kosten. Aber mitunter blieb der Wagen stehen und dann ließ man ihn eben stehen. Die Idee mit der Rundreise an der alten Grenze fand Sanne ausreichend verrückt. Etwas Vernünftiges zu versuchen war idiotisch. Zum Spielen war sie zu alt. Einen Grund, warum sie in etwa sieben Jahren noch leben sollte, gab es nicht. Es gab eigentlich keinen Grund, warum in sieben Jahren überhaupt noch irgendein Mensch irgendwo leben sollte. Sie selbst hatte überhaupt nur einen Grund, leben zu müssen: Sie musste für Tim sorgen. Und eines war klar: In der Nähe von Claudias Leiche wollte sie nicht sein und jemanden, der sich um sie gekümmert hätte, gab es nicht mehr.
Claudias Mastercard war in Tims Hose verborgen. So richtig begriff Sanne die Sache mit dem Geld nicht. Irgendwie war es ja eine praktische Angelegenheit gewesen. Scheinbar hatte früher einmal jemand etwas, was etwas wert war, gegen so ein Versprechen eingetauscht, es wieder gegen etwas Vernünftiges zurück zu tauschen. Wenn man alles immer dabei haben musste, was man brauchte, dann war das doch schwer. Und wenn man etwas hatte, was man tauschen wollte, dann musste man erst einmal den treffen, der das haben wollte, was man hatte. Und am meisten wollten alle etwas zum Essen eingetauscht bekommen. Solche Versprechenskarten nutzten nun nur noch an Automaten. Die glaubten immer noch, dass irgendeine Zahl, die sich von einem Computer zum anderen Computer bewegte, als Versprechen auf alles Mögliche eingelöst werden konnte.
Sanne und Tim hatten kein Glück. An jenem Tag nicht und in den folgenden Wochen auch nicht. Das heißt, gelegentlich kamen sie durchaus ein kleines Stück voran. Sprünge von Dorf zu Dorf, selten einmal zur nächsten Kleinstadt.
Sanne konnte nur zwei Wünsche gegeneinander eintauschen. Sie brauchte immer wieder neu etwas zum Essen für sich und Tim. Ganz selten fand sie jemand, dem sie bei etwas helfen konnte, also der wirklich zum Beispiel ihr so viele Äpfel überließ, wie sie essen und wegtragen konnte, wenn sie zusammen mit Tim Äpfel richtig vom Baum pflückte. Die tauschte sie dann in der Stadt gegen Anderes ein. Wirklich viel bekam sie aber nur von den Jungen, deren Penis noch dick wurde. Meist arbeitete sie schnell und geschickt mit ihren Händen und mit dem Mund. Aber es wurden weniger. Eigentlich wusste Sanne ja, dass das früher etwas war, was zum Liebe machen dazu gehörte. Sie hatte gelesen, dass das mitunter noch Männer mit über 60 Jahren gekonnt hatten. Nun war es ihr schon ein paar Mal passiert, dass Jungen, die noch nicht einmal aussahen wie 40, von ihr erwarteten, dass sie ein eingeschrumpftes Schniepelchen zum Aufquellen brachte, und sie hatte sich Mühe gegeben, aber die Dinger waren nur tropfende Blasenausgänge. Und als wäre sie schuld daran, hatte sie sogar einmal einen Zahn lose geschlagen bekommen. Und hungrig geblieben waren sie auch.
Manchmal hatten sie Glück. Dann trafen sie auf ein Haus, wo alle schon gestorben waren. Sie musste nur die stinkenden Körper wegräumen und in den Zimmern, wo vorher Leichen gelegen hatten, konnte man nicht essen und schlafen. Aber hatten die Nachbarn die letzten Todesfälle noch nicht bemerkt, dann gab es noch Vorräte. Sonst waren die Mauern wenigstens gut gegen Kälte und aus der Leitung kam Wasser.
Sanne hatte von Krankheiten gehört, die von den Leichen kamen. Aber die Berichte hatten freundlich geklungen. Wenn man daran starb, dass dauerte es keine Monate.
Wenn Sanne an einem zuckenden Penis ihre Kraft für Essen und manchmal ein warmes Bad und Bett oder etwas anderes Schönes einsetzte, dann versteckte sich Tim. Nein, sie schickte den Bruder irgendwohin, wo er nicht weit war, aber nicht zusehen musste. Seinen Penis hatte sie noch nicht so aufgeblasen gesehen wie die ihrer Futterjungen. Manchmal, wenn sie sich fest an ihn ankuschelte, dann dachte sie daran. Die meisten Jungen wirkten, während sie an ihnen schlürfte, als empfänden sie eine große Freude dabei. Viele dieser Freuden erlebten sie nicht. Sollte Tim nicht einmal das erleben dürfen? Sie hatte es eben schlecht erwischt. Nun verstand sie, was Claudia damals gemeint hatte: Die große Schwester sein, das ist ein hartes Schicksal. Nun war sie die große Schwester. Und eigentlich taten ihr am meisten Tims fragenden Blicke weh, wenn sie mit besonders schönen Proviantpaketen ankam. Wenn sie dagegen Prügel bekommen hatte oder leer ausging, dann nahm er sie in die Arme und tröstete sie. Fast, als hoffte er darauf. Und er hielt es dann einige Stunden aus, ohne zuzugeben, dass er Hunger hatte. Klar. Oft klauten sie auch. Aber die Plätze, an denen wirklich geklaut werden konnte, wurden immer seltener. Wo hätten auch Menschen zusammenkommen sollen, um etwas miteinander zu tauschen. Inzwischen kamen Sanne und Tim in die ersten ganz verlassenen Dörfer. Inzwischen hatten Autos auch nur noch eine Bedeutung für Tims Fantasien. Praktisch kamen sie nur so viel weiter, wie sie auf den eigenen Beinen vorwärts kamen. Und das verkniffen sie sich mitunter mehrere Tage nacheinander, wenn sie einen verlassenen Hühnerhof feierten oder Sannes Dienste in Anspruch genommen wurden. Gab es überhaupt noch Städte? Also solche mit lebenden Menschen darin, keine Ansammlung von toten Mauern?
Einen Festtag zwischen der zähflüssigen Zeit im Irgendwo und Irgendwann gab es dann doch. Sommer war es und sie hatten gerade gut gefüllte Rucksäcke. Da hatte die Luft Violine gespielt und von einer alten, schon lange nicht mehr benutzten Landstraße aus sahen sie einen hügelab gelegenen schlafenden See. Sie sahen sich an, nickten sich zu, und dann fingen sie an zu rennen, quer über die Wiese, auf der bisher ungestörte Insekten Löwenzahnblüten geküsst hatten. Wie Kinder quietschten sie, obwohl Sanne schon 13 war, und sie rissen sich die schweißverklebten Sachen im Laufen herunter und sie prusteten und durch ihre Körper ging der Schreck eines kalten stechenden Wasserrauschs. Und während sie sich die letzten Haare nass machten, gab es für sie nicht nur keine lebenden, sondern auch keine toten Menschen. Sie balgten sich eine Weile. Endlich suchten Sannes Füße den Weg zurück ans Ufer. Sonnenstrahlen spielten mit Glitzertropfen auf ihrem Rücken. Sie sah sich um. Tim schwamm noch eine Runde. Nun nur noch bis über die Knöchel im Wasser blieb Sanne stehen, um auf den Bruder zu warten. Der kam heran, setzte die Füße auf und stoppte.
„Na, was ist?“ In Sannes Augenwinkeln hatte sich ein Schalk platziert, den sie längst verloren geglaubt hatte. „Komm raus! Du wirst dir noch was verkühlen.“
Und dann kam er wirklich auf sie zu. Er sah ihr nur in die Augen. Ihr Blick schaukelte zwischen Gesicht und jenem steil aufgerichtetem Trotz hin und her. Sanne reichte Tim ihre Hand. Die letzten Schritte taten sie gemeinsam. Irgendwie feierlich.
Als sie danach das nächste Mal in den See stiegen, um den frischen Schweiß abzuspülen, freute sich jeder darauf, den Anderen vor dem Ertrinken in unsichtbaren Strudeln zu retten.
In dieser Nacht schliefen sie aneinander geschmiegt am Ufer des Sees. Sanne genoss den Moment, an dem sie dachte, der Bruder schliefe, und sie konnte ihren Gedanken nachhängen. Da hörte sie es murmeln: „Wenn ich mir eine Schwester hätte wünschen können, ich hätte dich gewünscht.“ Sanne hoffte, Tim bemerkte nicht, wie sie weinte.

(4)
Ich hatte nicht mehr dran geglaubt. Es ist so ein seltsames Gefühl. Wir laufen über diese Monsterstraße, die früher einmal Autobahn geheißen hat. Inzwischen sieht man schon, dass darauf eine Weile kein Auto mehr gefahren ist. Wir übersteigen seltsame Gebilde, die wohl dazu da waren, dass man sie nicht übersteigt. Ohne lesen zu können wäre das alles nicht zu verstehen. Riesige Hinweisschilder verraten uns, wohin wir wie hätten gefahren sein können. Dunkel erinnere ich mich, dass sich ein Ring um die alte Hauptstadt windet. Von ihm aus gibt es Fangarme nach innen, Wege ins Zentrum. An diesem Schreckenswerk früherer Menschen vergnügt mich nur eins: Es stehen extrem wenige Autos herum. Wahrscheinlich haben hier die Tankstellen am längsten funktioniert oder die Menschen haben die kleinen Reserven dort aufgebraucht, wo was Wichtigeres war.
Dann kommt eine neue Enttäuschung. Drinnen im Ring ist es kaum anders als draußen. Was soll daran Hauptstadt sein? Im Laufe der nächsten Tage wird eines deutlich: Es gibt doch einen Unterschied: Alle verlassenen Grundstücke sind ausnahmslos gründlich geplündert worden. Außer gepflegten Plätzen zum Schlafen finden wir kaum Nützliches. Allerdings liegen auch kaum Leichen herum. Irgendwer muss sie bis zum Schluss weggeräumt haben. Dieser Irgendwer hat noch gelebt. Jetzt ist er weg.
Die Zeit vergeht jetzt anders. Es gibt kein Ziel mehr. Ich bin nun fast 16 Jahre alt, so alt wie Claudia damals. Inzwischen sind wir in fast allen Ländern gewesen, in denen Deutsch Landessprache ist. Eine blöde Idee. Das weiß ich jetzt. Und die Hauptstadt als krönender Schlusspunkt ist wohl das blödste daran. Ob wir wohl noch einen lebenden Menschen treffen? Ob das überhaupt wichtig ist?
In jedem Haus, das wir bewohnen, gehe ich als erstes ins Bad. Dort kommt dann der Blick in den Spiegel. Es kann nur noch Tage dauern, bis es losgeht. Ohne Tim würde ich alle Spiegel meiden. Aber ich will nicht, dass ich es zuerst in seinen Augen sehe. Ich will nicht, dass er mich anlügt, wie schön ich aussehe. Wie ein Mädchen eben. Und wir sind bald so ein Griechenpaar. Philemon und Bauxis. Aber wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich bin zuerst ich dran und Tim rast hinterher.
Wieder ein Tag zwischen toten Gärten. Tim macht sich seinen Witz damit. Er geht in den Straßen von Auto zu Auto. Fast alle sind verschlossen. Der Rest ist leer. Es ist ein böses Vorzeichen. Hunderte Autos, vielleicht Tausende hat er schon getestet und nicht eines brachte er zum Fahren. Und ich? Ich habe aufgegeben, ihn davon abzuhalten. Es zu versuchen ist genauso sinnlos wie es nicht zu versuchen. Und dann passiert es. Er sitzt in einem solchen Uraltding, ruft mich und … plötzlich brummt es. „Spring rein!“ ruft er. Und ich spring. Tim deutet auf einen Schlüssel, der steckt. Wer weiß, was da passiert ist. Überhaupt nicht wichtig. Ich habe Angst. Tim ist doch noch nie Auto gefahren. Keine zwei Minuten und der Wagen ist voller Beulen genau wie der vor und hinter ihm. Aber Tim lacht und fährt! „Alles abgeguckt!“ ruft er und ich stelle mir vor, dass wir gegen eine Mauer rasen und dass das ein schöner schneller Tod wäre. Aber Tim biegt ab und biegt nochmal ab. Wir fahren jetzt doch zwischen vielen Häusern durch, hohen Häusern, gespenstischen Blöcken mit über hundert Fenstern und niemand ist dahinter. Und dann passiert es. Zwischen zwei Blöcken kommt ein Ball auf die Straße geflogen. Hinter ihm her rennt ein Junge, ein schwarzer Wuschelkopf. Tim gibt Gas, reißt das Lenkrad nach links. Es quietscht, scheppert … Dann stehen wir. Ich sag nichts. Tim ist so blass. „Die Bremse … Ich hab Gas gegeben … Ist er …?“
Ich mach die Tür auf, seh mich um. Da! Da ist er.
Ich winke.
Langsam kommt er näher, als traute er seinen Augen nicht.
Als er ran ist, murmelt er, starr seine Augen auf mich gerichtet, allerdings laut genug, dass ich es verstehen kann: „Krass eh!“
Und ich frage: „Gibts noch mehr von deiner Sorte?“
„Komm!“ sagt er und winkt. Das gilt nur mir. Tim hat er wohl noch nicht bemerkt. Der hat sich aber inzwischen gefasst. „Eigentlich müsste hier irgendwo so ein Schlauchboot rauskommen. Airbag, weißt du? Zur Sicherheit. Warum …?“
Es ist mir eigentlich egal, warum das Airbag nicht funktioniert hat. Wichtig ist doch, dass alle heil davon gekommen sind. Und dass wir jemanden zum Sprechen haben.
In der Zwischenzeit kommt ein anderer schmächtiger Junge zum Vorschein. „Ich bin Erkan. Aber du darfst auch Türk sagen. Machen alle. Weil, das ist Viet. Frag ja nicht, wie er richtig heißt!“
Ich stelle Tim vor und mich. Türk gafft mich an wie so eine Außerirdische. Dabei … er sieht gut aus. Ich schätzte ihn 15 wie Tim. Viet wirkt jünger, aber ich weiß, dass das immer so ist bei den asiatischen Jungen. Zumindest hat das früher gegolten.
Wir gehen durch einen Torweg, über einen Hof, den auf allen Seiten Blöcke mit sechs Etagen vom Wind abschirmen. Es schallt irgendwie komisch. Da sage ich lieber nichts. Warte ab. Und dann öffnet Türk eine der Türen und wir kommen in eine echte Wohnung. Nicht geplündert, richtig mit Möbeln. Wohl warm, weil Sommer ist. Und dann … stehe ich plötzlich in einem Zimmer zwischen eins, zwei, vier … sechs Jungen. Tim hat sich nicht reingetraut. Ich kann mir nur zwei Namen auf Anhieb merken: Tom, weil das so ähnlich klingt wie Tim. Aber zum Glück hat der eine fast schwarze Haut außer an den Innenhänden, da werde ich ihn wohl nicht verwechseln. Und einen Ali. Ob der wirklich so hieß? Er war jedenfalls so ein arabischer Typ.
„Nein. Also so weit du hier läufst, findest du keinen Menschen mehr“, erklärt mir Türk, der wohl so was wie der Boss der Truppe ist. Soweit ich das erkennen kann, sind alle im selben Alter. Wir sind die Letzten, die für ein paar Monate zusammen sterben dürfen.
„Wollt ihr bei uns bleiben. Ist sonst eh nix los.“
Zum einen gefällt mir Türk … zum anderen …
Ich traue meinen Ohren nicht, als ich mich antworten höre: „Falsche Frage. Richtige Frage: Wollt ihr euch uns anschließen?“
Zwei der Jungen, deren Namen mir entfallen sind, kaum dass ich sie gehört habe, stehen auf und starren jetzt auch.
„Na, die letzten Tage werden bei mir nicht vergammelt.“
Ich sage es in meinem Große-Schwester-Ton und niemand widerspricht.

(5)
Sannes erste Amtshandlung als Gruppenobmann war eine Art Wohnordnung. Jeder war nun zuständig für eine eigene Wohnung, Sauberkeit und dass sein Bett darin so aussah, dass man sich gern hineinlegte. Dazu kam ein Gemeinschaftsraum, für dessen Zustand sie reihum zuständig sein sollten. Und wozu das Ganze, hatte Türk noch versucht, zu widersprechen. Na, es könne ja sein, dass sie nicht immer im selben Bett schlafen wolle, hatte Sanne erklärt. Aber in einem verkeimten auf keinen Fall …
Türk hatte anzüglich gelacht. Aber er hatte genauso reagiert wie die anderen: Gleich wenn man das Haus betrat, wirkte es schon am nächsten Tag wohnlicher. Niemand gab offen zu, das Glas mit dem Grün ins Treppenhausfenster gestellt zu haben. Aber am Vortag hatte es noch nicht dort gestanden.
Am Abend des zweiten Tages gab es einen leisen Streit im Zimmer der Geschwister.
„Das hast du doch nicht wirklich ernst gemeint, oder?“
Tims Frage stand als Vorwurf im Raum.
„Meinst du, ich mache leere Versprechungen?“
Dass Sanne dann Tim vorwarf, dass sie zuvor doch meistens mit ihrem Körper bezahlt hatte, was sie gemeinsam zum Leben brauchten, das wisse er doch, nahm ihm den Atem. Sie wusste, es war gemein und es gab einen Unterschied zwischen etwas wissen und etwas wirklich wissen.
„Aber das hier ist etwas Anderes.“ Wieder so eine Floskel, deren tiefe Bedeutung beide gern umgangen hätten. Doch dann setzte Sanne Tim ihre Beweggründe auseinander.
Noch sei gar nicht heraus, bei wem die Männlichkeit über die große Klappe hinaus reichte. Es sei zwar niemandem ein Symptom der Erkrankung anzusehen, aber die verliefe ja immer mit kleinen Nuancen. Sie wolle ein Kind. Sie möchte etwas, wofür es sich zu leben lohne, etwas, was bedeutete, es sei eben nicht alles zu Ende. Ob er das denn nicht verstehe? Sie wolle sogar zwei Kinder. Solche wie ihn und sich. Solche, für die sich die letzten Tage lohnten. Jeder einzelne Tag. In jeder Unwahrscheinlichkeit sei immer noch ein Stück Hoffnung. Ein ganz kleines nur, aber eben eine Chance, die nicht Null sei. Ihre Chance sei eben erst Null, wenn sie wirklich gestorben seien. Und wenn ihre Babys als Babys starben, dann war das eben so … aber sie hätten es wenigstens versucht. Ob er denn wirklich wolle, dass sie sich in ein paar Monaten gegenseitig anödeten, weil sie selbst zum Sterben zu doof waren und Verhungern sei kein schöner Tod, aber wer sollte denn rausgehen, um für sich etwas zu Essen zu besorgen und das sei doch nur ein längeres Sterben. Ob er das wolle? Er solle sich doch einmal vorstellen, dass jeder dieser Junge sich ausmalte, Vater des Babys zu sein. Kämpfen würden sie. Tag um Tag für das Kind und vielleicht für ganz wichtige Momente vergessen, dass sie gerade beim Sterben waren. Denn was sei denn Leben sonst Anderes als aufgeschobenes Sterben und das Pflanzen von Hoffnung. Und der Anfang sei doch schon gemacht.
Tim verstand diese Anspielung nicht. Er wollte Sanne weiter bedrängen. Doch die rüttelte ihn. Mensch, Tim, klar kann es ein Zeichen der Krankheit sein, dass die Blutung ausgeblieben ist und sie war ja immer sehr unregelmäßig wegen der vielen Aufregungen. Aber sie sei sich fast sicher, da wuchs schon was. Und er solle darüber die Klappe halten. So, wie sie noch ein paar Wochen die Klappe halten würde. Dann würde sie jedem erzählen, das Kleine sei von ihm und dass sie den Anderen dasselbe erzählen würde. Und sie wünsche sich so sehr, beim nächsten wäre es die Wahrheit, dass sie nicht wisse, wer der Vater würde, aber ob ihm, Tim, nicht aufgefallen sei, dass er wahrscheinlich der Jüngste war und also am ehesten auch für das nächste Kind als Vater in Frage käme. Umso wichtiger sei es, wenn sich alle auf das erste freuten.
Und jetzt könne er entscheiden, ob sie schon gleich den zweiten Jungen zum Vater machen solle oder er lieber besonders zärtlich zu ihr wäre.
Tim war erst zärtlich und dann packte ihn eine innere Wut und er keuchte und malte sich aus, dass dort, wohin er stieß, schon ein Anderer war … oder eine Andere. Und sehr schnell war er erschöpft und schlief ein und im Schlaf schien er zu weinen. Noch in derselben Nacht fragte Sanne den Viet, ob er ihr, wenn er schon nicht ein Kind machen wolle, doch wenigstens all das antun möchte, was dazu nötig sei.
In der folgenden Woche testete Sanne alle Jungen bis auf Türk. Immer wachte sie in anderen Armen auf und immer bemühte sie sich, zu allen nett zu sein. Nur Tims Frage tat ihr weh. Obs schön gewesen war. Schöner als bei ihm. Anders eben, sagte sie, anders. Und sie wusste, dass Tim zwischen Selbstzerfleischung und der Hoffnung hin und her schwankte, sie würde sagen, er wäre der Beste gewesen. Doch um nicht zu lügen, sprach sie eine unbezweifelbare Wahrheit. Er sei ihr Lieblingsbruder.
Dann kam der Kampf mit Türk. Es hatte geknistert bis zum Geht-nicht-mehr. Es war kein Geheimnis. Er hatte sie läufige Katze genannt und sie ihn einen jaulenden Kater. Endlich, endlich entlud es sich. Wie auch immer es um die Jungen stehen mochte, Sanne gelang es, dass sie sich als „richtige Männer“ fühlten.
Noch immer sah keiner der Jungen älter als 20 aus. Die ersten Male hatte es ungeheurer weiblicher Einfühlung bedurft: So etwas passiere jedem Jungen, jedem gesunden jungen Mann gelegentlich, dass sein Mischa nicht aus dem Winterschlaf will. Das habe überhaupt nichts zu bedeuten. Sie wisse da ein paar Tricks … und dann zeigte sie ein paar Tricks. Bis dann der Tag kam, als sie das erste Mal sagte, sie sei sich sicher. Und er solle doch so lieb sein, dass auch die anderen Jungen den Glauben gewännen, sie seien der Vater. Und sie wusste noch andere Tricks.
Mit jedem der Jungen ging sie gelegentlich ins Bad. Doch außer dem kugligeren Bauch und den Brüsten, auf die Sanne so glücklich stolz war, war nichts von der Hetze der Zeit an ihren Körpern abzulesen.
Unmerklich hatten die Jungen Sanne angenommen. Erst nur als längst schon nicht mehr erhoffte körperliche Partnerin, immer mehr aber begann sie, Ziele zu stecken. Zum Beispiel würde das Baby einen Platz brauchen zum Schlafen, eine Wiege, einen Kinderwagen, Sachen zum Anziehen. Nichts davon, vielleicht abgesehen davon, dass man das Baby vielleicht in ein Bett für Erwachsene legen konnte, war vorhanden. Frost war in den Wintern zwar selten, aber kalt würde es schon werden. Irgendwann hatte die Versorgung mit Fernwärme ausgesetzt. Wie durch ein Wunder kam mitunter noch Strom aus der Steckdose. Irgendwo gab es also mindestens ein Kraftwerk, das arbeitete, ohne dass dort jemand arbeitete, oder vielleicht lebten noch andere Menschen. Das wäre nicht das Wichtigste. Nützlicher wäre, zu Heizkörpern zu kommen, die man mit jenem Strom betreiben konnte. Ob sie nicht losziehen wollten auf der Suche nach einem Haus mit Kachelofen oder Kamin. Damit wäre auch eine andere Frage leichter zu lösen: Wie sollten sie die Versorgung mit Lebensmitteln dauerhafter sichern, wenn es kalt war. Ein Stall mit Haustieren wäre gut. Natürlich wäre der riesige Innenhof hier auch verwendbar. Es gab nur eine schmale Stelle, die sie hätten zumauern müssen. Aber dafür hätten sie Tiere gebraucht. Immer nur Reis und Nudeln mit irgendwas aus der Tüte war nicht nur langweilig und als Nahrung für eine Mutter, die ein Kind säugen sollte, zu unausgewogen – wenn sie die Reserven zusammenrechneten, die sie aus den Resten der Kaufhallen der Umgebung erbeutet hatte, so wären die voraussichtlich im Februar aufgebraucht. Die Gläser und Büchsen mit Fertiggerichten waren schon aufgebraucht.
Sanne teilte also Arbeitsaufgaben zu. Immer waren zwei Zweierteams unterwegs. Heizgeräte, Essbares, Stoffe … Was immer nützlich sein konnte, sollten sie besorgen. Bebaute Grundstücke mit Stall oder so finden, die nicht ausgeplündert waren.
Sanne selbst blieb „zu Hause“. Inzwischen überboten sich die Jungen darin, ihr Schweres oder Gefährliches fern zu halten. Dabei war sie erst im 6. Monat und konnte ihre Schwangerschaft noch mit geeigneter Kleidung verbergen.
Die größte Entdeckung machte Türk. Er fand ein Grundstück, neben dem eine Herde Kühe krepiert war. Sehr bildhaft schilderte er die Gerippe und wie er sich den qualvollen Tod dieser Eutermilchmaschinen auf vier Beinen vorgestellt hatte. In der Nähe lebten aber noch eine Menge halb verwilderter Hühner. Er habe nicht verstanden, warum nicht Katzen oder Hunde über sie hergefallen seien, aber es lohne sich, dorthin mehrere Ausflüge zu unternehmen. Man würde Säcke und Kescher und solche Sachen brauchen.
Mit Wunsty gab es einen kleinen Streit. Er war überzeugt, für alle das ideale Haus gefunden zu haben. Der einzige Grund für diese Überzeugung waren die Fotozellen auf dem Dach. Da hätten sie doch eine eigene Stromversorgung. Schließlich gab er zu, dass sie gerade in der kältesten Zeit auf Strom aus dem großen Netz angewiesen waren.
So vergingen die Wochen. Sie hatten gemeinsam drei Etagen eines dieser Wohnblöcke hergerichtet. Den meisten Platz verbrauchten die Lagerbestände. Inzwischen hatten sie zwei Autos – ein normales und einen Kleintransporter. Sanne hatte entschieden, dass sie extrem sparsam mit den Kraftstoffreserven umgehen mussten. Wo sollten sie Batterien aufladen, wo Brennstoff? Eigentlich tauchten immer neue Probleme auf. Aber insgesamt sammelten sie Pluspunkte. Ihre Lebensumstände verbesserten sich von Tag zu Tag ein wenig. Manchmal sprachen sie darüber, dass sie tatsächlich keinen weiteren lebenden Menschen mehr getroffen hatten. Oft aber sprachen sie über das kommende Baby. Zum Beispiel, dass es ihre Spitznamen lernen sollte, weil es bestimmt zu schwer war, wenn es bei so verschiedenen Gesichtern „Papa“ sagen sollte. Und damit war klar, worüber sie nicht redeten: Über die Krankheit, deren erste Anzeichen jeder für sich heimlich suchte.
Oft hockten die Jungen neben Sannes Bauch, gehorchten fast ehrfürchtig ihren „Anweisungen“, wie sie darüber streichen sollten, und sprachen akzentuiert, weil Sanne meinte, davon sei abhängig, ob das Kind einmal ordentlich sprechen konnte.
Sie hatten einen Kalender angelegt. Der zeigte den ersten Juli, als Sanne plötzlich das Gesicht verzog. Ja, Presswehen, hörten die Jungen und ja, das sei von der geplatzten Fruchtblase.
Was die Mutter anging, so verlief die gesamte Geburt komplikationslos. Mitunter schubsten sich die sieben Väter, wer denn das Glas Wasser reichen oder über den Rücken streichen durfte. Als dann die Austrittsphase begann, war es nicht mehr so eng im Raum. Ohne, dass das im Gegensatz zu jedem einzelnen Handgriff, den sie so oft durchgesprochen hatten, vorher so geklärt worden wäre, waren plötzlich nur noch zwei der Jungen im Raum: Tom, der das mit blutigem Schleim bedeckte Wesen packte und Tim, der wie ein eingespielter Assistent dem Anderen reichte, was der verlangte. Später waren sich alle einig: Ohne die Beherrschtheit des Schwarzen wäre … nur Schlimmes passiert. Und plötzlich, nach dem ersten Schrei, war der Raum wieder voll und alle Helden standen und mussten rausgeschickt werden, weil noch was mit der Mutter gemacht werden müsse. Das sei nichts für sie.
So kam dem dunkelhäutigen Vater des dunkelblonden Mädchens das Recht zu, den endgültigen Namen zu vergeben.
„Lilith!“ sagte er und auf die Verwirrung der anderen Väter hin, weil dieser Name vorher gar nicht im Gespräch gewesen war: „Der erste Mensch vor allen Menschen. In der Legende. Der Anfang, der anders war …“
Und so stimmten alle zu.

(6)
Bin das wirklich ich?
Was für Gedanken mich bedrängen! So viele peinliche. Wenn ich die in ein Tagebuch schriebe, müsste ich zu sehr aufpassen, dass es keiner liest. Aber ich brauche es nicht aufzuschreiben. Ich vergesse sie garantiert nicht. Vielleicht … Wenn ich schreibe, dass ich das von Tom nicht erwartet hatte, dann muss ich damit zugeben, dass ich ihn zu leichtfertig übersehen hatte. Es braucht halt jeder seine eigene Situation, in der er seine besonderen Fähigkeiten zeigen kann. Manche können es nie. Vielleicht kommt für jeden von uns noch der Moment zum groß hinauswachsen.
Und wie weiter jetzt?
Immer Stück für Stück das klären, was gerade wirklich wichtig ist. Zum Beispiel die Milch. Ich werde jetzt Milch haben. Sie wird einschießen und dann …
Immer wieder neue Aufgaben. Wie gestaltet man ein menschliches Leben? Was wird das Kind wohl alles lernen? Wer wird es ihm beibringen? Von dem, was Menschen einmal alles erfunden und gebaut haben, gibt es kaum etwas, was noch funktioniert. Von dem, was die Menschen von der Natur gelernt haben, haben wir das meiste vergessen. Aber eben nicht total. Tom eben zum Beispiel …
Ob ich den Jungs sage, dass ich irgendwie, ich weiß nicht wie, aber eben irgendwie so eine Ahnung habe, dass die Krankheit bei uns nicht kommt? Aber das ist überhaupt nicht wichtig. Wir werden einfach so leben als ob.