Samstag, 3. September 2011

Ich habe diesen Namen gehasst ...

Er war ein Fluch, dieser Name.
Schon als kleines Kind hieß es oft "...so wie der ...?"
Und dann kam ich mir als Zehnjähriger vor, als wäre ich in Spanien kämpfen gewesen.
Ein Vorbild - unbedingt ein Vorbild.

Ich musste mich befreien, den "Ehrendienst" an der Waffe bei der "Nationalen Volksarmee" der DDR verweigern.
Dann hatte ich zwar bei einigen Bonzen verschissen, aber ich fühlte mich befreit. Ich war nicht der. Nach mir würde keine Kaserne (der "Volkspolizei") benannt.

und jetzt ...?
Jetzt möchte ich mich fast entschuldigen.
Deutsche Interessen werden weltweit mit der Waffe durchgesetzt.
"Mein" Hans Kahle ist losgezogen, um die Regierung eines Landes, die sich dessen Volk gegeben hatte, vor der Niederwerfung bewaffneter Banditen in Uniform zu schützen. Gegen bombende Deutsche.
Er hatte erkannt: Manchmal muss man einfach tun, was nötig ist.
Hätten die internationalen Brigaden damals gesiegt, ... vielleicht wäre dies der Test gewesen, der die Faschisten in ihrem Größenwahn der Überlegenheit gebremst. Vielleicht wäre der 2. Weltkrieg nicht, bestimmt aber nicht so über die Menschheit gekommen.

Und ich denke dran, wenn manchmal wenigstens in einer Zahl die unter dem Bombenhagel der Mordwilligen getöteten libyschen Menschen erwähnt werden oder die Afghanen, Iraker, Pakistani und andere Menschen.

Und ich danke allen, die wenigstens versuchen, etwas dagegen zu tun ...

der Hans Kahle von 1960

Freitag, 2. September 2011

Im Heute das Morgen



Als sie in den Hörsaal gedrängt wurde, kam ihr, zum wievielten Mal schon, der Gedanke, ihre Haare zu färben. Es war doch die natürlichste Sache der Welt. Rötliche Haare zu haben hob sie aus der Masse heraus. Wenn sie das gewollt hätte. Aber will sie das? Die Jungs behandelten sie wie eine besondere Beute. Wer bekommt sie zuerst in die Kiste? Ein Glück, dass Myra sie gewarnt hatte! So war sie der Blamage mit Tommy entgangen. Die Kerle waren eben doof. Sie begriffen nicht, was sie an ihr gehabt hätten.
Jenny musste aufpassen, um nicht abgedrängt zu werden. Nein. Myra hielt zwei Plätze frei. Ganz oben. Für Peggy und sie. Obwohl … Mit Myra konnte jede Veranstaltung gegen den Baum gehen. Die fand immer etwas dazwischenzureden. Das lenkte ab. Aber die Semesterarbeit musste wenigstens ein „befriedigend“ bringen. Dann bekam sie die Anwesenheit für das Semester „Praktische psychologische Probleme extraterrestrischer Lebensentwicklung“ bescheinigt. Mehr wollte sie nicht. Wenn sie im kommenden Jahr an einem College studieren wollte, brauchte sie neben dem Notendurchschnitt, der kein Problem für sie war, den Beweis für das Interesse an 50 Nebenfächern. Das war viel. Eigentlich zu viel. Und extraterrestrische Lebensentwicklung interessierte sie nicht wirklich. Aber viele der Mitschüler fanden es schick. Da hatte sie die größte Chance, nachher noch ein paar Gedanken zu korrigieren. Und diese Lesung war auf jeden Fall etwas Außergewöhnliches. Da ließ sich ein Dozent der Akademie zweimal im Jahr für die Schüler ihrer Kleinstadt dazu herab, vier Stunden Vortrag zu halten. Weil er selbst einmal hier geboren und obwohl er tatsächlich schon im All gewesen war. Na, vielleicht hoffte er, so schneller einen eigenen Lehrstuhl zu bekommen.
Die Plätze waren echt gut. Jenny versuchte, dieses unsinnige Gefühl wegzudrücken, gleich ginge eine Prüfung los. So also sah ein echter altehrwürdiger Hörsaal aus. Kein Computerkabinett mit Simultanarbeitsplätzen, sondern ein riesiger Raum mit Bänken, die aufsteigend angeordnet waren. Von den schätzungsweise 400 Plätzen waren inzwischen etwa 300 belegt und noch immer spuckten die beiden Doppeltüren schubsende Schüler in den Saal. Eigentlich war das eine ideale Gelegenheit. Wann konnte man sonst schon die Jungen beobachten, ohne dass die sich benahmen, als müssten sie was vorspielen? Eben ohne auf den Kontakterfolg mit ihr fixiert wie an den Monitoren. Nicht so unmittelbar vor dem Satz HAST DU ABER SCHÖNE BLAUE AUGEN! Wäre Tommy nicht gewesen, Jenny hätte es für ein gelungenes Kompliment gehalten, sich zumindest darüber gefreut. Diese Augen war neben jenen RÖTLICHEN Haaren das auffälligste Erbstück von ihrer Mutter und die war auch jetzt noch eine aufregende Frau. Was andere Mädchen mit extra eingesetzten Haftschalen zu imitieren versuchten, war bei Jenny Natur: Ihre Iris gab im Normalfall einen ungewöhnlich breiten Kreis blau leuchtenden Himmels preis. Aber wahrscheinlich hielten es eben alle für künstlich.
Noch drei Minuten. Jener legendäre George Buckinns hatten seinen Platz eingenommen. Offensichtlich nervös spielte er am Beamer herum. Wunderbar: Der würde also Zusammenfassung und Struktur des Vortrags an die Wand werfen. Jenny brauchte nur Fotos zu machen und sich ein paar spezielle Ausdrücke des Dozenten zu notieren.
Eigentlich war der Typ … Jenny hätte nicht sagen können, was sie von dem Mann halten sollte. Für einen, der schon eine Interstellarreise und erste Jahre an der Raumakademie hinter sich hatte, sah er extrem jung aus. Anfang 40 vielleicht. Jünger als Dad. Das war wahrscheinlich den Kälteschlafphasen geschuldet, die er durchlaufen hatte. Er hatte seinen Flug zu einer Zeit angetreten, als die Astronauten zum ersten Mal ihre Schlafsärge im Wechsel selbst einstellen durften. Sieben Frauen, sieben Männer. Keine Paare am Anfang. Ob sie sich fänden, brächte erst die Gemeinschaft der Flugzeit. Zufälle. Denn sie hatten sich geeinigt, dass immer nur zwei bis drei Besatzungsmitglieder den irdischen Wechsel von Tag und Nacht simulierten, den Flug überwachten. Es konnte also Jahre dauern, bis die eine den oder die anderen fand, die besonders mit ihr harmonierten. Dass das Team theoretisch gut harmonieren würde, hatten Tests an dafür entworfenen Geräten ihnen bescheinigt. Man hatte sie auf eine Reise von etwa 20 Jahren im Wachzustand und einen allgemeinen 100jährigen „Dornröschenschlaf“ eingestimmt. Da gehörte es dazu, sich gegenseitig zu testen, zu harmonisieren und zu verwerfen. Das gehörte zum Programm. Es konnte ja sein, dass sonst absolut nichts geschah. Ihr Hauptziel war es, das Programm zur automatischen Erkennung von Lebensformen zu testen. Was nutzten denn Sonden, deren Untersuchungsprogramme unter Umständen einen Mangel enthielten, sodass sie entweder lauter Zivilisationen meldeten oder an Planeten vorbeiflogen, die vielleicht eine zweite Erde waren oder werden konnten? Sicher konnte man nur sein, wenn man die Untersuchungsergebnisse vor Ort verglich.
Eigentlich erzählte er ganz interessant. Er schien auch nicht so ein ichbezogener Schnösel zu sein. Seine Vorstellung hatte er auf den Namen beschränkt und sich Spielereien um sein Alter verkniffen. Wenn man seine Kältschlafzeiten mitrechnete, dann hatte er schon über 320 Jahre auf dem Buckel.
Interessant, ja, aber … Jenny hätte nicht sagen können, warum sie trotz allem nur mit halbem Ohr hinhörte. Irgendetwas schien um sie herum zu knistern und sie darauf einzustellen, dass das Wesentliche des Tages noch kommen würde. Auch die erste Pause ging ohne etwas vorüber, woran sie sich später erinnert hätte.
Der Wandel trat unmittelbar nach der Pause ein. Wahrscheinlich war der Dozent selbstsicherer geworden. Vielleicht wegen der vielen Möchtegern-Studenten, die ihn in der Pause mit Fragen bedrängt hatten. Er hatte sie auf die letzten 90 Minuten vertröstet und sich die Fragen aufgeschrieben. Auf jeden Fall erwartete er den Moment gelassen, in dem endlich Ruhe und Aufmerksamkeit herrschten. Geherrscht hätten, wenn nicht ... George Buckinns ließ langsam seinen Blick über die Reihen schweifen. Gelassen erst. Dann stockte er plötzlich. Für das, was er dann tat, gab es nur einen Ausdruck. Er starrte. Er starrte Jenny an. In seinem Blick lag so viel Verwunderung, als hätte er zum ersten Mal im Leben etwas Unmögliches gesehen. Er wurde sich gar nicht bewusst, dass die ihn erfassende Schockstarre bereits von den ersten Schülern bemerkt wurde. Immer mehr drehten sich zu Jenny um, deren gesamtes Blut aus dem Körper in die Gesichtshaut zu fließen schien.
Da war der Moment vorüber. „Tja, meine Damen und Herren, wo waren wir stehn geblieben?“
Allmählich richteten sich die Blicke der Schüler wieder auf den Mann vorn. Der aber schien trotzdem sein Konzept verloren zu haben. Immer wieder schweifte sein Blick zu dem Platz, auf dem Jenny saß. Blick um Blick, Blick für Blick. Jenny hatte längst ihre Fotos vergessen, ihre Aufzeichnungen, ihr eigentlich begrenztes Interesse. Sie war sich sicher, jedes Wort, das dieser Mann da vorn sprach, war an sie gerichtet, und sollte es nicht an sie gerichtet sein, so nur, um eben das zu verbergen. Der Dozent wiederum hatte vergessen, was er wie hatte theoretisch noch hatte herleiten wollen. Gefangen in Erinnerungen erzählte er und es war ganz nebensächlich, dass 400 Augenpaare gebannt auf ihn gerichtet waren, dass 400 Schüler ihn hörten.
„ … Unser Sonnensystem war längst nicht mehr mit bloßem Auge auf der Projektionswand zu erkennen. Sie müssen dazu wissen, dass der wichtigste Raum im Schiff die Brücke war, eine gewaltige Ansammlung von Konsolen und Monitoren und eben jenem Hauptschirm. Dort wurde nicht wirklich gesteuert oder so, aber dort wurden alle Messwerte zum Flug und den Objekten, denen wir uns näherten, zusammengetragen. Der Hauptcomputer entschied, ob eine ungewöhnliche Abweichung auf den Schirm kam. Wenn er keine entdeckte, war dort die vor uns liegende Sternenwelt zu sehen – nach Wunsch mehr oder weniger nahe herangezoomt. Ich hatte gerade den Dienst übernommen. Boris hatte sich zum Schlafen gelegt, also zum einfachen Schlafen im 24-Stunden-Rhythmus. Jana hatte Freiwache. Ich nahm an, dass sie sich entweder in der Messe mit einem unserer Spezialmenüs langweilte oder im Sportraum ihre Fitness pflegte. Sie hatte mir die Wache übergeben. Unser Schiff befand sich im Inneren eines nicht total uninteressanten Sternensystems. Das heißt, Intelligenz ähnliches Leben erwarteten wir keins. Aber immerhin flogen wir in ein Sonnensystem mit Planeten hinein. Wir hatten bereits einen Gasriesen passiert, unseren Jupiter 24, und näherten uns dem Lebensgürtel des Systems. Es war an sich nichts Sensationelles, ein weiteres System mit einem Bereich entdeckt zu haben, in dem sich Leben entwickeln konnte, kein Grund, von der gewohnten Routine im Schiff abzuweichen. Gerade noch lohnend genug, für Vergleichszwecke Vermessungen durchzuführen. Ich ließ gerade den Computer den dritten Planeten bewerten. Unser großes Gehirn meinte, dass das Planetensystem eine Lebenserwartung von 9,5 Milliarden Jahren hatte. Der Planet vor uns war 3,4 Milliarden Jahre alt. Somit konnten auf ihm – sollten sich die Theorien einer gesetzmäßigen Entwicklung der Materie als richtig erweisen – Vor- oder Frühformen von Leben existieren, da er sich am günstigsten Teil des Lebensgürtels befand. Zum einen war unser Ergebnis interessant für Raumexpeditionen wesentlich späterer Zeiten, zum anderen war wichtig herauszufinden, woran es liegen konnte, dass die Entwicklung des Lebens dort eventuell ein ganz anderes Niveau als das erwartete hatte.
Wir hatten uns inzwischen jener Proto-Erde genug genähert, um in seinen Orbit einzuschwenken. Wir wussten um zwei Monde und um das Vorhandensein einer Atmosphäre mit Sauerstoff.
Ihnen ist sicher bekannt, dass eine relativ konstante Sauerstoffanhäufung – und sei es nur ein Anteil von unter drei Prozent – auf Basis astronomischer, sprich anorganischer Vorgänge nicht möglich ist. So etwas gibt es nur dort, wo auch Leben ist. Leider war in unserem Fall aber nicht genug Sauerstoff da für eine Lebensform mit uns vergleichbarer Atmung. Also liefen Routinen ab, wurde niemand zusätzlich geweckt. Ich spielte am Zoom. An sich konnte ich den Schirm so einstellen, dass er die Planetenkugel zeigte mit ihren vielen noch nicht definierten Flecken, aber wir waren schon deutlich dichter dran. Daneben ließ ich Wahrscheinlichkeitsrechnungen laufen. Hatte der Planet eine stark gegliederte Oberfläche: 98 Prozent ja. Wurden die optischen Wahrnehmungen durch Wolken gestört: 80 Prozent ja(steigend). Bestanden diese Wolken aus Wasserdampf: 41 Prozent ja(steigend), Gab es an der Oberfläche Meere oder Ozeane 46 Prozent ja(steigend) Entwickelte sich darin Leben 37 Prozent ja(schwankend). Mein Auge war verärgert über die Vorsicht des Computers. Ich war mir sicher, zwischen den Wolken eine Oberfläche mit zwei Ozeanen und dazwischen liegenden Landmassiven entdeckt zu haben. Da geschah es. Erst einmal ohne sichtbaren Grund schlug meine Stimmung um. Ich hatte plötzlich bessere, dann einfach gute Laune, schließlich hätte ich meinen Zustand vergnügt, berauscht, euphorisch genannt. Eine reine Füllung Freude. Ja, da entwickelte sich etwas. Ein Gefühl, ein Wissen. Da würde etwas leben, anders und ähnlich zugleich, schön, vielleicht nicht in unserem Sinne, sondern in sehr urtümlichen, aber erhabenem. Lauter Bilder. Ja. Inzwischen sah ich Bilder. Erst nur geometrische Spielereien, Abstraktes, dann Blätter, Bäume, Bauten. Etwas, was ich Menschen genannt hätte. Ich wollte … Ich weiß nicht, was ich wollte. Bis zu diesem Augenblick hielten sich zwei widerstreitende Eindrücke die Waage: Das Wissen, dass das alles nicht real sein konnte, Visionen aus Licht, und dass ich die Anderen hätte rufen müssen, aber ich konnte mich nicht rühren. So wie ich in schneller Folge etwas sah, was zeitlich weit voneinander entfernt liegen musste, so schien ich außerhalb aller Dimensionen zu sein. Ich konnte nichts tun, was nur eines Momentes echter Zeit bedurfte.
Aber ich war doch Forscher! Ich war doch mit einem Auftrag ins All geschickt worden. Ich musste diese Bilder festhalten. Die Anderen mussten sie sehen. Verifizieren. Der Computer würde sie speichern für die Menschheit. Aber erst einmal …
Diese tiefe Freude ließ ein wenig nach. Jana … Nicht, dass ich damals daran gedacht hätte. Später kam ich auf die Idee, die Schwankungen in der Stärke des Gefühls erwuchsen wahrscheinlich aus der Nähe der Wasser- und Landmassen unter mir. Hätte ich ausschließlich Land unter mir gehabt, wäre dieser Rausch wohl vergangen, mit allein Wasser wäre ich wohl durchgedreht. Immer war von beidem etwas da und meine Sinne flogen. Ich hätte die Welt umarmen wollen. Die da unten und meine Menschenwelt. Jana … Und da passierte die nächste Verwandlung. Ich wusste sofort, das da war nicht eine Vision der Welt, die da unten einmal sein würde. Auf dem Schirm sah ich etwas, was ich einmal mit meinen Augen gesehen haben werde. Ja, ja, ich sah mich etwas sehen. Also ich sah nicht mich, sondern ich sah, was ich sah. Es war so wahnsinnig schön. Dabei hätte ich mir nie, wirklich nie vorstellen können, dass ich das einmal schön finden könnte. Da lag eine Frau im Bett. Ich saß daneben, stand auf, setzte mich wieder. Und diese Frau entband gerade ein Baby. Und ich wusste, es war mein Baby. Und ich sah es ans Licht drängen. Und ich hörte die Frau gepresst atmen, sah ihren Bauch und ich fand diesen Bauch sexy. Und ich wollte ihn küssen, diesen Bauch, und legte doch nur meine Handfläche darauf, irgendwie mit der Hoffnung der Urahnen, aus der Schlangenbisswunde das Gift saugen zu können, ihr so allen Schmerz zu nehmen, damit auch sie nur Freude sei. Und dann hatte ich plötzlich das Baby in den Händen, das allerschönste Mädchen, das je auf der Erde geboren worden ist, und ich legte es der Frau an die Brust. Und sie sah mich an mit ihren riesengroßen blauen Augen und wartete, bis ich ihr ihre Haare nach hinten strich, ihre rötlich leuchtenden Haare, die mit Schweiß an die Stirn geklebt waren. Auf einmal zeigte der Schirm nichts Anderes mehr als strahlend blaue Augen und ich empfand nichts außer einem so intimem Glück, dass ich einen unbeschreiblichen Schreck bekam, als an derselben Stelle das vorige Bild der Planetenoberfläche zu sehen war. Ich wischte mir über die Stirn. Schweißtropfen. Noch immer hätte ich mich nicht gewundert über einen schrillen Babyschrei. Aber dann … Eines Tages werden Sie es nachempfinden, dieses Aufwachen. Diese Peinlichkeit.
Ich war doch krank, oder? Jeder hat schon einmal mehr oder weniger gut erdachte Geschichten über Raumkoller, Psychosen und Ähnliches gehört. Sollte mich so etwas erwischt haben? Dann kam mir ein anderer Verdacht. Jana war für alles, was nicht rational zu erklären war, viel zu vernünftig. Boris hingegen entwickelte mitunter einen sehr zweifelhaften Humor und er war mit Abstand der beste Programmierer im gesamten Team. Sollte er die Zeit genutzt haben … Sofort fiel mir auch ein, dass es einmal um Frauen und das Kinder kriegen gegangen war und ich ihm erzählt hatte, dass ich mir nichts Unheimlicheres vorstellen könne. Dass ich nichts Abartiger wüsste als Männer, die bei einer Entbindung dabei waren.
Na warte! Von wegen schlafen …
Was soll ich sagen? Es gab richtigen Ärger, als ich ihn weckte. Ich hatte ihn wohl doch aus dem Tiefschlaf geholt. Seltsamerweise scheute ich davor zurück, ihm den Grund zu gestehen. Ich behauptete einfach, das Bild auf dem Hauptschirm habe geflackert. Und bevor der ganz ausfiele …
Anfangs war Boris echt sauer. Was ich denn wolle? Alle Instrumente funktionierten einwandfrei. Dann jedoch las er das codierte Datenstromprotokoll. Er wurde immer unsicherer. Ich verstand die Ausdrücke nicht, mit denen er um sich warf. So wie er es dann für Steinzeitmenschen auf der Datenautobahn wie mich zu übersetzen versuchte, müsse eine externe Quelle ohne definierten Zugang und ohne Zugangsberechtigung unter Umgehung aller Sicherheitsroutinen kurzzeitig Unmassen an Impulsen eingespeichert haben. Eigentlich hätten komplexe Bilde in 3D-Format dabei entstehen müssen. Ich könne froh sein, dass es beim Flackern geblieben war. Aber sollte so etwas noch einmal auftreten, müssten wir auf jeden Fall auf direktem Weg zurück. Er würde die gestörten Sequenzen löschen. Niemand solle uns vorwerfen, wir hätten eine Gefährdung ignoriert. Dann aber sagte er etwas, was ich, wenn auch mit viel handfesterem Grund nur bestätigen konnte: Dieser Planet sei ihm unheimlich. Wir kommen hier sowieso zu keinen neuen Erkenntnissen. Wir sollten zusehen, dass wir weiter kämen!
Bis gestern schlug ich mich mit drei Erklärungen herum, die mir alle nicht recht waren. Die vernünftigste: Ich hatte irgendwelche Halluzinationen, war, wie auch immer, erkrankt. In diesem Fall hätte ich leichtfertig das ganze Unternehmen gefährdet, denn es hätte ja schlimmer werden können mit Schäden für alle.
Oder irgendwo im Rechnersystem hatte ein Virusprogramm gewirkt oder eine elektromagnetische Anomalie oder was auch immer. Dann träfe Boris die Schuld, weil er von uns der einzige war, der so etwas hätte erkennen und beseitigen können und müssen. Ich hätte sogar optimal reagiert, als ich ihn als ersten benachrichtigte. Allerdings spricht die Kombination meines unbeschreiblichen Hochgefühls und der verschiedenen Bilder dagegen.
Die unheimlichste Erklärung wäre die, dass die gewaltige ursuppenartige Masse ein Gesamtbewusstsein und weit reichende direkte Kommunikationswege entwickelt hatte. Was dies für künftige Raumflüge bedeutete, wage ich nicht auszumalen.
All diese Überlegungen haben heute eine neue Facette bekommen. Ich glaube, ich habe die Frau von dem Bildschirm gesehen. Ich habe sozusagen jemanden wiedererkannt, den ich in der Wirklichkeit noch nie gesehen habe. Bitte erlauben Sie mir, auf diese Geschichte nicht weiter einzugehen, bevor ich nicht auch die weiteren Details der Vision wiedererkennen konnte.“
Für einen kleinen Moment starrten die Schülermassen George abwartend an. Da musste doch noch etwas kommen … Dann aber drehten sich einige verstehend zu Jenny um und was in den folgenden zwei Minuten gesagt wurde, ging im Trampeln von Schülerbeinen unter. Irgendwie waren sie eben doch nicht so erwachsen, wie sie gern hätten gesehen werden wollen.
George wischte sich Schweißperlen aus dem Gesicht. Wer ihm sehr nahe gestanden, hätte geahnt, dass er einen Teil seines Vortrags wie unter hypnotischem Zwang gehalten, dass er nicht einmal bestätigt hätte, was er gesagt hatte. Aber in dem Saal stand ihm niemand nahe. Noch nicht.

Donnerstag, 1. September 2011

Zwei Jungen, die beinahe die Welt retteten




Er schien das Ehrwürdige dieser Burg, auf der sie ihren Abschied begehen durften, überhaupt nicht wahrzunehmen. Im Gegenteil. Wie ein großer freier Redner hüpfte er auf die breite steinerne Außenmauer und sah, anstatt den möglichen Sturz in die Tiefe zu bedenken, zum blassblauen Himmel hinauf. „Bestimmt schauen sie uns uns jetzt zu. Sie sind schon da. Glaub mir doch!“
„Klar, vor allem dir sind sie nah. Also wenn die nichts Besseres zu tun haben, dann tun sie mir Leid!“
Die beiden Jungen hätten verschiedener nicht sein können. Der eine trug eine Brille und hatte sein Gesicht glatt rasiert. Die Haare auf dem Kopf hatte er so kurz schneiden lassen, dass sie als Borsten wie eine Vergrößerung des kantigen, aber gnadenlos ordentlichen Gesichts wirkten. Egal, ob man ihn von weitem oder von sehr nahem betrachtete, war man sich sicher, dass der Junge nur sehr gute Noten in der Schule haben konnte und berauschenden Mitteln bestimmt ablehnend gegenüberstand. Als ein Strebergesicht, wie es typischer nicht hätte sein können. Der Kopf des anderen schien etwas zu groß geraten. Überhaupt war irgendwie alles nicht ganz so, wie es wohl hätte sein sollen. Eine Kugel schien vor ihrer Einweihung kurz von drei Seiten mit einem flachen Gegenstand aus ihrer eindeutigen Form gebracht worden zu sein. Überall war sie mit mal gelockten, mal mit gekräuselten Haaren bewachsen, die nirgendwo den Charakter einer Frisur, eines Bartes oder von etwas Anderem annehmen wollten, was einen Namen verdient hätte. Und alles deutete darauf hin, dass der Junge es irgendwann aufgegeben hatte, sich zu frisieren. Von diesem Irgendwann an hatte er sich gebilligt, wie er war. Auch dass er von seinen Mitschülern nicht akzeptiert wurde, hatte er in Kauf genommen. Er hatte in all den elf Schuljahren immer gerade so das Klassenziel erreicht. Kein Lehrer hatte ihn beachtet, denn er hatte auch nicht gestört. Er war Fleisch gewordener Satz „Lasst mich doch endlich in Ruhe“, sehr stiller Protest. Warum hätte man ihn länger in der Schule behalten sollen? Irgendwie hatten ihm wohl alle Lehrer bei den Abschlussprüfungen unbewusst Suggestivfragen gestellt, die er störrisch nicht richtig, aber auch nicht falsch beantwortet hatte? Musste man sich das noch ein zweites Mal antun? Er hatte all die Jahre so etwas wie den vierten Bodyguard zu einem der Alphamännchen in der Klasse abgegeben. Doch die Burg bot nur Zwei- oder Vierbettzimmer. Als fünfter hatte er nirgendwo hinein gepasst - so wie der Streber, der in Gedanken schon in jene Schule ging, die seines Vaters Zukunftsvisionen ihm zugedacht hatten.
Als am ersten Abend jener Streber seine Konzentrationsübung gemacht hatte, an den mild blauen Nachthimmel zu schauen und an Nichts zu denken, also eigentlich daran zu denken, dass er an nichts denken wollte, da waren unerwartete Worte in seine ungeschützten Gedanken gedrungen: „Irgendwo da draußen gibt’s noch mehr solche wie uns.“
Jeder andere Schüler hätte sicher einen Witz draus gemacht. So in der Art „Noch so einer wie du? Kann ich mir nicht vorstellen.“ Oder er hätte seinen Unmut gezeigt wegen der Störung. Doch die Überraschung war zu groß. Der da gedacht hatte, nur er selbst könnte hoch fliegende Gedanken entwickeln, schluckte erst einmal. Sein Schweigen klang wie eine laute Zustimmung.
„Was mögen die für Technik haben? Nehmen wir an, sie fliegen von einem Planetensystem zum anderen. Dann müssten sie ja technisch weiter sein als wir.“
Der Sprecher mit dem Kräuselkopf hieß Skworizschesko´opoli, was soviel hieß wie Wolfgang, der jüngste, wenn man den Skwori ihrer Jagd in Rudeln wegen zubilligte, dass sie außerhalb des Planeten vielleicht Wölfe geheißen hätten. Er hatte instinktiv seine Hand auf jene Stelle seines Kleides gelegt, unter der sich die – natürlich in seinem Alter noch leere – Bauchtasche befand. Vielleicht, weil er auf seine dort besonders muskulösen Sprungläufe so stolz war, hüpfte er jeweils drei Tatzen vor und zurück, rauf auf die Mauer und wieder runter. Die anderen ehemaligen Mitschüler feierten in den großen Zimmern die Erfolge ihres zweiten Ferientages. Es waren schließlich die letzten echten Ferien ihres Lebens und das musste gefeiert werden.
Wolfgang und Bernhard – eine sicher erlaubte freie Übersetzung für Oschtschotkich, denn wenn man bei uns seine Koseform Otscho nutzte, dann dächten Kenner ja eher an eine Tangofigur als an einen Jungen aus einer fremden Galaxie – also die beiden schwiegen einen Moment tiefsinnig nebeneinander her.
„Weißt du, was ich nicht verstehe?“ unterbrach Wolfgang wieder die Stille. Es lag die Sicherheit in seiner Stimme, es konnte gar keine andere Antwort als NEIN geben. Er setzte auch gleich fort, als hätte der Andere bereits mit nein geantwortet: „Wir sind biologisch auserlesen als die sozial höchst entwickelte Spezies im Weltraum. Die Lehre von Saúkastawilly ist doch überzeugend. Die Art, wie ein biologisches Wesen mit seinem Nachwuchs, Seinesgleichen und anderen Wesen in seinem Umkreis umgeht, wird durch die Funktionsweise seiner Kommunikationsorgane bestimmt. Das verstehe ich. Auch, dass diese Organe bei uns die höchste natürliche Optimierung erfahren haben. Dass sich die Schlüpflinge von dem Moment, an dem sie sich aus der Eihülle befreit haben, bis zu dem Zeitraum, an dem sie so selbständig sein wollen wie wir, jederzeit in die Bauchtasche von Mutter oder Vater begeben können, muss ja eine enge, ganz bewusste Beziehung zu den Eltern schaffen. Was aber festigt denn den Zusammenhalt der Gruppe mehr als die in ihrem Fluchtvermögen Eingeschränkten gemeinschaftlich zu verteidigen, den Schutzkreis zu bilden, notfalls Schlüpflinge selbst in die Tasche zu nehmen, obwohl es nicht die eigenen sind? Eine solche biologische Vorgabe musste doch den Gemeinschaftssinn unserer Vorfahren besonders stark ausprägen. Auch unsere Sexualität hat etwas einmalig Würdiges. Wir haben gelernt, dass große Teile der Tierwelt ihre Geschlechtsorgane in teilweiser Funktionsgemeinschaft mit Ausscheidungsorganen ausgebildet haben! Na ih! Nur unsere Entwicklungsvorfahren prägten solch idealen Mund aus mit dem Kehlkopf zur differenzierten Formung von Lautzeichen und der Kazikka beim Mann. Dazu solch eine lange und bewegliche Zunge, die beim Sprechen genauso nützlich ist wie beim Platzieren der Spermiten im Eileiter der Mädchen. Vorher das Protan nicht zu vergessen! Wie sollten denn anders gestaltete Körper Gefühle entwickeln? Wenn die Eierstöcke nicht als erstes von der männlichen Zunge mit etwas eingerieben werden, das die Eiproduktion auslöst? Unser Lecken ist als Strategie zum Geschlechterkontakt unübertroffen. Wir waren von Anfang an ideal! Wie war es möglich, dass wir so degenerierten? Oder kann man unsere Gesellschaft anders als degeneriert nennen? Auch wenn wir das nicht in der Schule lernen? Die Lehrer tun ja immer noch so, als gäbe es nichts Besseres als uns?“
„Die leben davon.“
Die drei Worte ließen sich noch zwischen den Wortschwall schieben. Aber sie verstärkten nur noch die Heftigkeit, mit der Wolfgang seine Rede fortsetzte, nun fast ununterbrochen begleitet vom Schwenken seiner Vorderläufe. „Genau. Die leben davon. Das ist es wohl: Dass es auf dem ganzen Planeten fast keinen Ky mehr gibt, der direkt für ein sinnvolles Produkt arbeitet. Anstatt weiter anständig die Aufgaben zu teilen, haben in der Vorzeit einige vorausgedacht, was andere machen sollten. Na gut. Die haben das gemacht und allen zusammen ging es besser. Aber irgendwann bekamen sie nicht mehr, was sie gerade brauchten, sondern etwas, was immer mehr nur dazu da war, es gegen Anderes einzutauschen. Also das Geld. Und man konnte sich vorstellen, welches Produkt, aber auch welche Arbeitsleistung man dagegen eintauschen konnte. Und manche haben die anderen Ky so überrumpelt, dass sie nicht nur so viele Arbeit Leistende kaufen konnten, dass ihr Geld davon immer mehr wurde, sondern sie haben mit einem Teil dieses Geldes auch noch Ky gekauft, die nichts anderes taten als immer wieder neu Mittel zu ersinnen, dass es so blieb wie es war: Die einen hatten, was immer mehr wurde, die anderen arbeiten, damit die ersten mehr hatten. Und alle freuten sich und die, die sich nicht freuten, wurden bestraft. Oder gekauft.
Inzwischen gibt es so viele Öle für die Kazikki, dass kaum noch ein Mann weiß, wie seine Zunge von alleine nass wird. Was haben wir heute? Lauter tolle Maschinen. Immer noch mehr. Nicht, dass wir uns freuen, wenn wir von unseren Liebsten Bilder machen können, nein, wir müssen das mit denselben Geräten schaffen, mit denen wir uns gegenseitig anrufen. Muss das sein? Vor allem: Muss das sein, wenn zugleich so viele Ky auf diesem Planeten verhungern? Weil sie einmal geboren wurden, um für andere zu arbeiten, aber ihre Arbeit heute von Maschinen gemacht wird? Zum Beispiel? Weil fast alles, was irgendwer braucht, von Maschinen hergestellt wird, die nur wenigen gehören? Jeder einzelne von denen nicht etwa etwas produzieren lässt, weil seine Produkte jemand braucht, sondern weil er wieder mehr Geld damit zusammenraffen möchte? Außer uns selbst haben wir keinen Feind mehr, der uns Ky gefährlich werden könnte. Aber wir werden uns immer gefährlicher. Die einen lassen immer neue Maschinen bauen, die das Leben anderer Ky und überhaupt beenden.“
Glücklicherweise hatte Wolfgang an dieser Stelle ein Problem mit dem Atmen. So konnte Bernhard endlich seine Frage loswerden, die ihn wohl schon eine Weile beschäftigt hatte: „Und wie willst du das ändern? Das ist doch der Fortschritt!“
„Das denken wir jetzt. Weil niemand mehr den Überblick hat. Alles ist wie es ist und die, die das Geld haben, immer einen Teil davon einsetzen, dass es so bleibt, dass nur ihr Geld mehr wird. Aber es gibt doch schon Maschinen, mit denen man überwachen könnte, wo was am sinnvollsten auf diesem Planeten produziert wird. Und jeder könnte sich an die Eingänge solcher Planungssysteme setzen und mitmachen, so lange wie er daran Spaß hat, für andere mit zu denken. Du, man brauchte gar kein solches Geld mehr – man könnte gleich anfangen, so viele Früchte zu produzieren, wie gebraucht werden, und dafür sorgen, dass sie dort ankommen, wo sie gebraucht werden. Es werden schon mehr produziert als gebraucht würden, aber ein Teil der Ky beschäftigt sich allein damit, die anderen, die ohne Geld von ihnen fern zu halten. Man braucht also nur denen, die schon so lange mit Geld, für das andere gearbeitet haben, Maschinen angeschafft haben, damit sie nachher mit nochmal Arbeit von anderen zum Schluss mehr Geld haben, zu sagen, dass niemandem etwas gehören darf, mit dem das geht. Und wer Anderes behauptet, bekommt kein Geld mehr dafür, weil denen, die sich so lange bereichert haben, dieses Geld weggenommen wurde. Und all die, die davon gelebt haben, dass alles bleibt wie es ist, bekommen nützliche Arbeiten. Felder bewässern zum Beispiel oder entwässern, wo das besser ist. Es soll ja niemand Angst haben, er wird unnütz.“
Da staunte der Streber. Er hätte sich kaum vorstellen können, dass der Wolfgang Sätze bilden konnte, in die mehr als ein Komma Platz gehabt hätte. Hier aber hatte er gerade Sätze mit wirklich sehr vielen Kommata gebildet, ohne sich zu verhaspeln. Und erst deren Inhalt! „Was du dir für Gedanken machst! Also ich bin da bisher nicht drauf gekommen. Bloß … Das klingt so einfach … Eigentlich müssten doch überall auf unserem Planeten Ky drauf kommen. Es gibt ja viel mehr, die nur arbeiten dürfen. Und da oben ...“ Er deutete vage in Richtung Weltall.“... haben sie wohl alle schon das Problem gelöst.“
Doch Wolfgang freute sich nur, endlich weiter reden zu können: „Eben das glaube ich nicht. Ich stelle mir das wie einen engen Spalt vor, durch den alle Wesen durch müssen, die so einen ähnlichen Kopf haben wie wir. Wenn nicht die, die die Verhältnisse verändern wollen und können, das in diesem kurzen Zeitraum geschafft haben, dann gibt es Verhältnisse, die diese Planeten allmählich zugrunde richten. Was weiß ich, was das für welche Maschinen oder so sein werden. Über uns fliegen ja schon welche, die uns überwachen und die wir gebrauchen, um einander Nachrichten zu schicken. Bald gibt es keinen Gedanken mehr, für den man dich nicht bestraft – und das für alle anderen unbemerkt. Und du arbeitest wie doof, bis es nichts Sauberes zu essen, trinken oder atmen gibt. Zuerst sterben solche wie wir … und zum Schluss die Ururenkel von denen mit Geld. Aber noch ist denen das egal.“

Weit oben im Orbit hatte eine Sonde das Gespräch erfasst. Eine umfangreiche Matrix identifizierte es als bedenklich aufrührerisch. Der Dienst, der die aus der Masse herausgefilteten Daten einer differenzierten Bewertung unterzog, war insbesondere vom Alter der systeminkompatibel Denkenden betroffen. Das Gespräch landete als Protokoll auf Ebene 3. Man entschied sich für unmittelbares Handeln. Der, der mit Codenamen Wolfgang erfasst worden war, wurde als Geisel bei einem Banküberfall Opfer des Schusswechsels zu seiner Befreiung. Der, der ihm so aufmerksam gelauscht hatte, machte Karriere im Management eines Großunternehmens der Datenlogistik. Es heißt, unter dem Einfluss von Rauschmitteln habe er seinen Kollegen gelegentlich ihre Dekadenz vorgeworfen, was ihm den Ruf als Sonderling erhielt. Seine dritte feste Beziehung zu einer Ky führte zu mehrfach gefüllten Taschen. Von da an hörte man ihn immer öfter davon reden, dass wer es nicht geschafft habe, eben mehr hätte arbeiten müssen.
Ob an der Theorie seines beinahe Freundes etwas gewesen war, erfuhr er nie. Im Alter von 79 Jahren überstand er ein Asche-Syndrom in fortgeschrittenem Stadium und schied aus dem Berufsleben aus. Zwei Jahre danach verstarb er. Es vergingen noch weitere 39 Jahre, bis die Atmosphäre des Planeten einen Kipppunkt erreichte. Die allmähliche minimale Erwärmung hatte die Verbreitung von Mikroorganismen gefördert, die lange in unbedeutendem Umfang für höhere Lebensformen giftige Substanzen ausschütteten, bis diese nicht mehr ausgefiltert werden konnten. Danach vermehrten sie sich sprunghaft. Trotz aller Bemühungen der Ky fand man keinen Weg mehr zu ihrer Eindämmung. Innerhalb von nur zehn Jahren waren alle höheren Lebensformen vom Planeten verschwunden. Da deren Überreste die Lebensgrundlage eines Teils dieser Mikroorganismen bildeten, verschwanden bald auch diese. Wären danach noch Ky am Leben gewesen, hätten sie festgestellt, dass die chemische Struktur der Planetenoberfläche einschließlich der Temperatur von circa 300 Grad über Flüssigwasser ungewöhnlich stark an die Zustände zu Beginn der dritten Existenzmilliarde des Planeten erinnerten. Sie hätten angenommen, dass nach weiteren zwei Komma fünf Milliarden Jahren der Planet wahrscheinlich wieder von höheren Lebensformen bewohnt sein könnte. Allerdings war dann nicht mehr mit der Herausbildung von intelligentem Leben zu rechnen. Deren Entwicklung wäre nämlich in die letzte halbe Milliarde Lebensjahre des Sternensystems gefallen, und da war von Natur aus mit immer lebensfeindlicheren Bedingungen auf dem Planeten zu rechnen.
Welch Glück. Es gab keinen Ky mehr, der das hätte feststellen können.

Mittwoch, 31. August 2011

Eine Reinigung



Er lächelte. Also das war noch wie in den Jahren zuvor. „Wasserschutzgebiet“. Dasselbe rechteckige Hinweisschild wie seit eh und je und daneben das dreieckige mit der Eule „Landschaftsschutzgebiet“. Nichts deutete darauf hin, dass inzwischen die Außenstation eines biologischen Forschungsinstituts eröffnet haben sollte. Im lokalen Werbeblättchen war ein kleine Artikel erschienen. Es wurde vor dem wilden Baden dort gewarnt. Man erprobe neuartige Methoden der Sauberhaltung des Wasserbiotops. Biologische. Solche, die alle Stoffe, die komplizierter als H2O waren radikal und schnell verarbeitet wurden.
Hinter Reinhard ruhte die Reihe der parkenden Autos am Straßenrand. Es waren eindeutig zu viel, als dass sie zu den Anwohnern gehören konnten. Schnell rüber über die Marienstraße. Nun ging es nur noch den schmalen Pfad weiter. Wenn ihm jetzt eine Familie im Gänsemarsch oder Radfahrer entgegengekommen wären, wäre er auf den Wiesenrand ausgewichen. Da kam aber niemand. Dafür stieß er auf den Hauptweg und der tauchte in ein strauch- und baumkronenüberschattetes Wegstück ein. Man musste schon wissen, wohin man wollte. Er wusste es. Nun kam die nächste Gabelung. Rechts die Strandecke für die Ghetto-Nackten, links der freie Strandabschnitt, an dem sich Nackte und Textilierte relativ harmonisch mischten. Vielleicht die Bekleideten eher weiter hinten, zur Insel hin.
Reinhard wählte den linken Pfad. Das hatte einen Nachteil: Er ging direkt auf den Müllpunkt zu.
Der Müllpunkt war ein typisches Produkt deutscher Bürokratie. Natürlich konnte es an dem See keine Badestelle geben. Wo keine Badestelle war, konnte es keine sanitären Einrichtungen, Müllsammelplätze und Ähnliches geben. Andererseits gab es diese Badestelle seit Jahrzehnten. Richtiger: Rund um den See wurde gelagert, um zu baden, an dieser Ställe nur geballt. Also hatte irgendwann einmal jemand am Beginn dieses Strandes, der kein Badestrand sein durfte, eine Stange eingepflanzt und an dieser Stange einen großen blauen Plastiksack befestigt. So hätte „man“ dort seinen Müll hineinstopfen können. Reinhard gehörte nicht zu den Eisbadertypen. So hatten immer schon Massen die Saison vor ihm begonnen. Jedenfalls kannte er den Platz um den Müllsack nur in immer gleichem Zustand. Etwa im Umkreis von zwei Metern lagen Joghurtbecher und Reste vergangener Zeiten so sorgsam verstreut, als hätten in irgendeinem der vergangenen Jahre Wildschweine die Hoffnung auf Fressbares zu spät aufgegeben. Vielleicht sollte dieser Anblick die eintreffenden Badelustigen von ihrem Vorhaben abhalten. Schon lange gingen die aber mit galantem Wegseh-Blick daran vorüber. Natürlich auch Reinhard. Diesmal aber hatte der blaue Sack einen Bruder bekommen, und jemand hatte sehr sorgfältig allen herumliegenden Müll beseitigt. Jedenfalls war kein einziges Teil zu sehen, das nicht natürlich gewachsen wäre. Allerdings waren so viele Badende am Rand des Sees verstreut wie immer.
Reinhard entledigte er sich seiner Kleidung. Achtlos platzierte er sie neben die ausgebreitete Decke und die Schuhe. Noch ein Kontrollblick: Es waren keine Hirsche in unmittelbarer Nähe. Nachdem er nicht mehr mit Frau und Tochter aufwarten konnte, war es ihm eine echte Peinlichkeit, selbst für ein Hirsch gehalten zu werden. Aber sollte er deshalb etwa mit der Tradition des Nacktschwimmens brechen? Geballt traten die Hirsche auf der unmittelbar gegenüber liegenden Seite des Sees auf. Mitunter lungerten ganze Gruppen tief gebräunter nackter Männer miteinander plaudernd am Ufer herum, um ein paar auffällig unauffällige Blicke auf sich ausziehende junge Mädchen werfen zu können. Auf Reinhards Seite gab es auch diesen Badetyp männlich, alleinstehend und ab 40 Jahre alt. Aber hier achtete wenigstens jeder auf ausreichenden Abstand zum nächsten. Alles war wie alle Jahre zuvor. Und an die Boxershorts der jungen Männer, die Reinhard für echte oder verkappte Russen hielt, hatte er sich gewöhnt. Er holte das Taschenbuch heraus, das ihm seinen Mix aus Bücherlesen am Sonnengrill und Nachbarschaftsstudien erlaubte. Irgendwann dann war seine Haut vorn, hinten, rechts und links etwa gleich heiß. Zeit, sich abzukühlen.
Zuerst kam noch der Gang ins Buschwerk der Verdauungsentsorgung wegen. Dann hieß es, langsam ins Wasser eintauchen. Der See bot eine besondere Wahlmöglichkeit: Bei windigem Wetter hätte Reinhard die kurze Strecke quer zu den Hirschen durchschwimmen können. Der See war aber relativ lang gestreckt und Reinhards Klassiker war es, die Längsstrecke auf der Hirschseite entlang zu schwimmen, dann an dem reinen Textilstrand an der anderen Seespitze vorbei und schließlich auf der anderen Seite der Insel zurück, so etwa 1000 Meter ruhiges Brustschwimmen als sportlichen Sommerhöhepunkt. Da konnte er sich nachher einen Pluspunkt in persönlicher Gesundheitsvorsorge anschreiben. Allerdings wagte er diese Tour immer erst, wenn er schon seiner Form sicher war. Diesmal schwamm er auf die andere Seite und dann immer am schmalen Sandstrandstreifen entlang. Eine Weile war die in ausreichendem Abstand vorüber schwimmende Entenfamilie der einzige Höhepunkt dieses Badeausflugs. Reinhard bemühte sich, kein Wasser in Mund, Nase oder Ohren zu bekommen. Mitunter war er einem schwimmenden Gewächs begegnet, das sehr verdächtig an halb zerfallene Darmausscheidungen erinnerte, und auch sonst wagte er sich nur deshalb in dieses Gewässer, weil er um seine widerstandsfähige Haut wusste. Insofern irritierten ihn die beiden Jungen, die begeistert etwas ins Wasser warfen, eine Fütterung, die sich weder an Enten noch an Schwäne richtete. Von jenen Wesen, die sonst ohne Böses zu ahnen, ins Wasser schissen, war keines zu sehen. Als Reinhard näher heran war, sah er es: Dort schwammen Fische! Reinhard kannte sich mit den Arten nicht aus. Es war auf jeden Fall ein Schwarm mit Tausenden Tieren. Manche hatten noch Stichlingsmaße, einige hätten sich aber schon gut in einer deftigen Fischsuppe ausgemacht. Die, die länger als etwa zehn und breiter als vier Zentimeter waren, fielen durch golden schimmernde Schuppen auf. Reinhard machte eine kurze Pause. Irgendwie hatte der Anblick des Fischlebens etwas Beruhigendes. Hübsch sahen sie aus und dass sie in diesem Wasser wirklich lebten und sich vermehrten, war doch ein positives Zeichen. Und noch ein recht unschuldiges Seeerlebnis erheiterte ihn. Fast schon am Ende des Sees angekommen, wurde er von unten gestreichelt. Unmengen an Wasserpflanzen, irgendwelcher Tang oder was auch immer strebte dem Licht und in diesem Fall Reinhards Körper entgegen. Sofern er darauf achtete, dass sich seine Füße nicht darin verfingen, krabbelten sie beim Überschwimmen den Bauch abwärts. Schade eigentlich, dass er die Stelle schon verlassen musste.
Nein. Musste er nicht ganz. Er konnte ja diesmal auf der Strecke wieder zurück schwimmen. Dann umkreiste er eben nicht die doofe Insel.
Zur Halbzeit horchte er in sich hinein. Das Ergebnis stellte ihn zufrieden. Kaum Erschöpfung. Die Muskulatur hatte die ersten Anpassungsprobleme an die ungewohnte Belastung überwunden. Er hätte auch abkürzen und quer übern See schwimmen können. Aber ihn erwarteten ja Pflanzen und Fische. Und ein anderes Problem ...
Er wusste nicht, wie es den anderen Badenden ging. Bei ihm regte das Schwimmen in deutlich unter Körpertemperatur kühlem Wasser die Blasentätigkeit an, trotzdem er ja extra vor dem Start etwas dagegen getan hatte. Aber auch das hatte seinen Reiz. Bei dem ruhigen Wasser konnte er sich ganz darauf konzentrieren, die unbedeutende Menge des Natursekts in das Schwimmwasser auszustoßen.
Ah, das tat gut!
Das Gefühl änderte sich schnell. Hatte er schon den Tangteppich erreicht? Waren es Fische? Auf jeden Fall verwandelten sich die Teile seines Körpers, die nicht die Stromlinienform eingenommen hatten, plötzlich in einen Sender intensiver Impulse. Brennen. Stechen. Als ob sie eine Nadelkissenhand fest umschlungen hielte. Dieser Schmerz, ja, Schmerz hätte er es bei aller Überraschung durchaus genannt, endete schnell. Er spürte die Region noch, aber eher wie man etwas bei örtlicher Betäubung spürt. Also so eher nein als ja.
Eine schleichende Panik hatte Reinhard erfasst. Er warf alle Vorsätze über Bord. Nur schnell zurück. Nein, keine Armzüge wie beim Brustschwimmen, wo ihm das Wasser noch in die Augen hätte kommen können. Nur effektiv Zug für Zug schnell quer übern See.
Reinhard hatte das Gefühl, er spielte in einem Film über Schiffbrüchige mit. Das Stück Ufer, das er erreichen musste, wollte und wollte nicht näher kommen. Nur nicht umsehen! Selbst, wenn das der Beweis gewesen wäre, dass er eben doch viele Meter weiter war. Aber … Ganz ruhig! Schwimmen. Es ist nichts. Es ist nichts!
Mit der schnell einsetzenden Erschöpfung kam glücklicherweise ein vernünftiger Gedanke. Es wäre wohl das Blödste gewesen, durch offensichtliche Panik den ganzen Strand auf sich aufmerksam zu machen. Und es gab keinen Grund, jetzt auch noch das Ertrinken oder die öffentliche Blamage zu riskieren. Außerdem konnten Empfindungen im Wasser extrem täuschen. Wenn ihm da unten … das wäre viel schmerzhafter gewesen. Also ruhig weiter schwimmen!
Als Reinhard endlich die Füße auf Grund senken konnte, stellte er halb beruhigt fest, dass ihn niemand beachtete. Es waren nicht sehr viele Schritte zwischen dem Punkt, an dem das Wasser bis zum Bauchnaben reichte, und dem Platz auf der Decke, dem Platz, an dem Reinhard sich ein Handtuch um den Bauch wickeln konnte. Entgegen jeder Vernunft verwunderte ihn nun ein völlig abwegiger Gedanke: Er blutete überhaupt nicht! Er hatte gar keine offene Wunde. ER war nur einfach weg.
Reinhard war absolut nicht der Typ für Öffentlichkeit. So war ihm eher wichtig, dass er in keiner Beziehung lebte. Und dieses unerwartete äußere Ereignis nahm ihm die lästige Pflicht ab, sich um eine neue engere Beziehung zu bemühen. Er würde von nun an alle Situationen meiden, in denen jemand entdecken konnte, was er in der, richtiger, was er eben nicht mehr in der Hose hatte. Und gepinkelt, gepinkelt hatte er auch früher schon oft im Sitzen.

Dienstag, 30. August 2011

Liebe Kinder



(1)
Claudia heulte. Hemmungslos hatte sie den Zellstoff verbraucht. Doch es war nicht zu Ende. Ihr Ärmel hatten kaum das letzte Tränenwasser aufgesaugt, da trat neues an seine Stelle.
Nimm dich endlich zusammen, meinte die eine innere Stimme - wozu denn, antwortete die andere, es hört und sieht ja keiner.
Aber du musst Martin endlich antworten!
Aber wozu? Es hat keinen Sinn mehr.
Rein technisch gesehen hatte die Antwortstimme Recht. Martin hatte sie vor neun Monaten kontaktiert. Da hatte sie als noch ungewöhnlich attraktive 15jährige in die Webcam geblinzelt. Und das Bikinioberteil unter dem hautengen Top so geschickt ausgestopft, dass Martin prompt gefragt hatte und sie ihm stolz verkünden konnte „75 C ...“. So habe man das früher genannt und das finde sie ein gesundes Maß. Was hatten sie danach herumgeblödelt! Martin war eigentlich ein Glücksfall. Einerseits sah er richtig scharf aus, ein Typ, die Mädchen garantiert hinterher liefen, aber zugleich hatte er überraschend reif gewirkt trotz seiner 15. Verständig. Nicht so, wie die Jungen, denen Claudia bis dahin begegnet war. Er hätte vielleicht …
Nein, es war besser so. Als sie es zum ersten Mal bemerkt hatte, war Claudia jene Idee gekommen, wie sie gedacht hatte, die rettende. Sie hatte geschwindelt. Dass irgendetwas an dem Programm nicht funktioniere. Sie keine Ahnung habe was. Vielleicht sei es auch ein Problem des regionalen Netzanbieters. Sie habe die Reklamation abgeschickt und warte auf Antwort …
Dabei hatte sie einen Verzweiflungsanfall gehabt und so lange auf dem verräterischen Auge herumgetrampelt, bis der beste Techniker ihr nur noch zu einer neuen Webcam hätte raten können. Seitdem chatteten sie wie in der Anfangszeit des Internets. Der eine schrieb, verschickte seinen Text und wartete auf die Antwort des Anderen. Die Handynetze waren schon früh zusammengebrochen.
Später dann kam es Claudia so vor, als alterte sie mit jedem Tag um ein Jahr. Sie übertrieb natürlich. Sie hätte dann ja schon 280 Jahre alt sein müssen und das hatte es selbst in der besseren Vergangenheit nicht gegeben. Aber kam sie sich mitunter nicht so vor?
Hätte sie Martin nicht doch einweihen sollen? Hätte sie es ihm zum Beispiel damals schreiben sollen, als sie das erste Mal nicht mehr die Zehennägel lackieren konnte? Weil sie nicht mehr dort unten ankam? Vor Schmerz hätte brüllen mögen? Bei aller Vernunft … Martin war doch nur ein Junge … was verstand der von gesund glänzenden Nägeln und dem Ekel, den ihre Füße jetzt bei ihr auslösten?
Immerhin konnte sie sich mit ihm über Bücher austauschen. Er hatte selbst noch richtige gelesen, verstand, was drin stand, diese Probleme von Greisen, die weit älter geworden waren als 30 Jahre. Er hatte aber auch Verständnis, wenn sie ihm von Sanne und Tim berichtete. Obwohl er gar keine Geschwister hatte und seine Bekannten wohl auch nicht. Aber er gab sich große Mühe, ihr Tipps zu geben, was sie die beiden alles unterrichten sollte und wie. Richtig gute Tipps manchmal sogar. In der Schule wäre Martin bestimmt ein ausgezeichneter Schüler gewesen. Und das sowohl in Mathe, Physik, Deutsch, Englisch, Kunst und Sport zugleich. Eine tolle Mischung. Er hatte sogar Gitarre gelernt. Schade. Lieder beibringen ging nun nicht. Und Sexualkunde ging auch nicht. Was sollte sie Sanne alles erklären?
Tim war zwar nur 15 Monate jünger, aber mit seinen 8 Jahren hatte er noch kein Interesse gezeigt. Und am schlimmsten waren ja eigentlich Sannes Blicke, solche, wo es Claudia eiskalt den Rücken heruntergelaufen war und sie dachte, die weiß schon alles. Alles, verstehst du Martin, hatte sie geschrieben, alles …
Darauf war Martin nicht eingegangen.
Ach Martin … Es ist bestimmt besser, dass du mich so … wieder schluchzte Claudia auf, diesmal mit schmerzhafter Koketterie … so sexy in Erinnerung behältst. Was ist das schon für ein Leben, wenn man einen Millimeter Farbcreme auftragen musste, um noch als Frau wahrgenommen zu werden und nicht als Greisin. Obwohl … in den letzten Wochen war Claudia gar nicht mehr draußen gewesen. Sanne machte längst alle Erledigungen. Überhaupt blieb Sanne lange draußen weg in letzter Zeit, und sie lächelte nur so komisch still wissend in sich hinein, wenn Claudia fragte, wie sie zum Beispiel zu dem frischen Gemüse gekommen war. Wie viel wusste sie vom Leben? Zu viel, bestimmt zu viel!
War das seltsam. Nicht einmal hatte Martin ihr gegenüber die Krankheit erwähnt. Obwohl es doch nichts Wichtigeres gab auf der Welt. Alle redeten von nichts Anderem. Ahnte er, warum sie es nicht erwähnt hatte?
Ob er wohl Forscher werden wollte? Vielleicht ein Mittel erfinden, mit dem es endlich wieder ein richtiges menschliches Leben gäbe, also so eines mit richtigen Erwachsenen.
Und plötzlich ahnte Claudia, warum Martin nie auf die Wiederherstellung der Videoverbindung zurückgekommen war. Er war doch selbst in dem Alter. Vielleicht hatte er schon kurz, nachdem sie sich nur noch schriftlich verständigten und sie ihm ein paar Fotos geschickt hatte, am Computer gesessen, ihr Bild an den Monitor geklemmt, seinen Penis in der Hand. Die meisten Jungen machten das so. Und da hatte er vielleicht zum ersten Mal bemerkt, dass es nicht ging. Dass da etwas Schwabbeliges zwischen seinen Beinen hing und sich streicheln ließ und er konnte das gewagteste Foto von Claudia betrachten und es rührte sich nichts! Nichts! Das war vielleicht für einen Jungen noch viel schlimmer als ihr Altern als Frau. Denn noch, als sie schon aussah wie Ende 30, war sie eine Frau, nach der die Männer sich umdrehten. Martin war vielleicht schon längst kein Mann mehr, also vom Selbstgefühl, und er hatte es die ganze Zeit verleugnet, sich damit abgelenkt, dass er der großen Schwester Erziehungsratschläge gab. Dann hatten sie in den letzten Wochen also deshalb so viel miteinander gechattet, weil auch Martin kaum den Weg auf die Straße schaffte. Claudia versuchte sich den Jungen mit dem Gesicht eines Greises vorzustellen. Es gelang ihr nicht. Nein, es klappte einfach nicht, sich jenen Jungen, der damals Kopfstand vor dem Kameraauge gemacht hatte, um sich so mit ihr zu unterhalten, über den Rollator gebeugt vorwärts kämpfend vorzustellen. Wenn er denn einen ergattert hatte.
Gleich damals hätten wir uns treffen sollen, überlegte sie. Es hieß, Mädchen können schon beim ersten Mal schwanger werden. Und angeblich verzögerte eine Schwangerschaft den Verfall geringfügig. So hatte es Claudia irgendwo gelesen. Aber wo hätte sie entbinden sollen? Selbst vor Tausenden Jahren, als es noch keine Ärzte gegeben hatte, hatten erfahrene ältere Frauen den Jungmüttern zur Seite gestanden. Aber die wenigen Nachrichten, die es noch gab, ließen nur einen Schluss zu: Auf der Erde gab es keinen Menschen mehr älter als 20 Jahre. Und eine richtige Wirtschaft gab es auch nicht mehr, keine Forschung, keine Lehre, keine Perspektive. Und niemand wusste, was eigentlich jene Katastrophe ausgelöst hatte.
Zwei Jahre war Claudia noch zur Schule gegangen. Dann waren die letzten Lehrerinnen gestorben. Das hatte ihr irgendwie geholfen. Also die zwei Jahre. Vielleicht hatte sie das so zu Martin gezogen, obwohl er 3000 Kilometer entfernt lebte. Weil sie auch so gern lernte wie er. Weil sie von sich aus las. Weil sie alles wissen wollte, verstehen.
Sie hatte sich mehr als eine Erklärung für das, was geschehen war, zusammengereimt. Sie stellte sich vor, das war ein Virus. Alles, was die natürlichen Programme zum Lebensablauf von außen störte, konnte man Virus nennen. So etwas musste es sein, was die astronomische Alterung der Körper kurz nach Ende der Pubertät bewirkte. Wo dieser Virus hergekommen sein mochte? Wo es doch so etwas seit Jahrmillionen in der Natur nicht gegeben hatte? Claudia war sich sicher, dass ihn die Menschen selbst geschaffen hatten. Nach dem, was sie so gelesen hatte, konnte sie sich durchaus vorstellen, dass es eine absichtliche Schöpfung gewesen war. Sie hatten das Krieg genannt. Vielleicht angenommen, es beseitigt nur bestimmte Arten von Menschen, Rassen oder so.
Oder es war etwas Ungewolltes. Zum Beispiel Strahlungen, die bei damals schon vorhandenen Mikrowesen einen Sprung ausgelöst hatten. Und mit den vererbten Eigenschaften bestimmter Pflanzen und Tiere hatten sie experimentiert. Dabei übersehen, dass jede Hauptwirkung auch eine Nebenwirkung im natürlichen Gleichgewicht haben würde. Und sie hatten sowohl die chemische Zusammensetzung von Erdoberfläche und Luft verändert als auch die Temperatur. Aber das veränderte doch die Lebensbedingungen vieler Lebewesen! Die Entwicklung bestimmter Organismen wurde gefördert, bei anderen wurde sie gehemmt. Vielleicht … Vielleicht war jener schreckliche Virus, wenn es denn einer war, auch erst aus dem Zusammenwirken mehrerer solcher Faktoren entsprungen. Sie würde es nicht herausbekommen. Niemand würde es herausbekommen.
Plötzlich erfasste Claudia eine grausige Ahnung.
Okay. Sie war dran mit Schreiben. Hatte lange keinen Satz in den Raum geschickt. Aber in solchen Fällen hatte Martin bisher immer nachgefragt. Immer wenn sie ihn nicht verstanden hatte, schalt er sich, sich nicht verständlich genug ausgedrückt zu haben. Ach, diese Missverständnisse, die sich dann immer klärten, die waren so lustig.
Martin?
Klick. Ab.
Nein, das genügte nicht.
Maaaaaaaaaartin?????????
Klick. Ab.
Unbewusst betrachtete Claudia die letzten Sätze ihres virtuellen Wortwechsels. Die waren alle so belanglos. Etwas, was sich vielleicht 15- oder 16jährige schrieben.
Noch immer keine Antwort. Das durfte jetzt nicht sein! Vielleicht hatte Martin etwas vom Bildschirm geholt, ihn vom Schreiben abgehalten. Angezeigt war, er war noch online. Er musste antworten. Unbedingt!
Mit theatralischer Geste schrieb sie – es sah sie ja keiner und diese Formel hatten sie früher angeblich alle so gebraucht:
Ich liebe dich!
Einen Moment noch starrte sie auf den Bildschirm, als müsste gleich die Schrift auftauchen Ich liebe dich auch oder, noch besser Ich liebe dich auch, Claudia.
Dann hatte Claudia das Gefühl, die ganze dreidimensionale Welt wurde ein Monitor und das Bild darauf wurde Pixel um Pixel grau und dann schwarz.
Etwa zehn Minuten später ging die Wohnungstür auf.
„Claudi, guck mal, was ich hier habe! Komm schnell!“ Sanne hielt abwartend einen geflochtenen Korb hoch. Erdbeeren. Richtige rot leuchtende Erdbeeren. Tim hielt es nicht aus. Er lief voraus, hinüber ins Wohnzimmer, entdeckte die – wie er glaubte – schlafende große Schwester am Computer – wo sonst – gab ihr einen kräftigen Stubs von der Seite und verwundert verfolgte er, wie der Körper nachgab, auf den Teppich sackte.
Nun war auch Sanne neben ihm. Nur undeutlich hörte er sie sagen, was er undeutlich ahnte: „Unsere Claudia ist tot.“
Und als er lauter weinte: „Nein, Tim, du warst das nicht.“

(2)
Ich war so blöd. Ich konnt es mir doch denken. Eine Bande war´s. Von wegen Beerdigung … Es überleben nur Kinder. Die können sich nicht wehren. Das lädt ein zum Überfall.
Nun bin ich die Beeren wieder los. Ungewaschen. Der Darm soll ihnen rausfallen, diesen Dieben. Wenigstens mit seinem Penis kann der Chef nichts mehr anfangen. Tat das gut. Klar hat er mir ins Gesicht geschlagen. Bin in die Ecke geflogen. Aber die Anderen haben über ihn gelacht. Komm lass, hat einer gesagt. Bestimmt der neue Boss. Sah echt gut aus das Blut, wie es sprudelte. Die Wohnung ist trotzdem leer. Bis auf das Bett eben. Wo jetzt die roten Tropfen die Farbe wechseln im Licht.
Ach, Tim, konntest du nicht still sein? So solltest du zugucken. Ein Extraspaß. Ist aber anders gelaufen, der.
Nix mehr da zum Verticken. Ob Monika noch Arbeit für mich hat? Tims Gruppe ist zu. Die alte Hilde ist nicht mehr gekommen. Sie ist bestimmt gestorben. War fast so lieb zu uns wie Claudia. Wollte uns was beibringen. Wir werden trotzdem nur sterben. Das dauert ja nicht mehr lange.
Tim schläft so schnell ein. Der hat es gut. Früher hätte ich Puppen gehabt zum Spielen. Jetzt habe ich Tim geschaukelt. Nun schläft er. Da freu ich mich mal ein bisschen. Tim ist immer da, wenn ich ihn brauche. Früher haben sich Brüder und Schwestern viel gestritten. Tim kann ich immer streicheln. Nur zugucken darf niemand. Aber dafür ist ja niemand mehr da.
Tim will immer was spielen. Das geht doch nicht. Das Leben ist ein Spiel mit doofen Regeln. Nur für Tim spiel ich mit. Manche Regel versteht sogar er. Morgen spielen wir eben was ganz Neues. Wir entdecken die Welt. Vielleicht finden wir mehr solche wie uns. Hier in der Gegend gibt es außer Tims Gruppe nur Alte wie Claudia. Die sind alle fast tot. Afrika ist interessant. Aber zu weit. Wie sollten wir dort hinkommen. Wir versuchen es mit Deutschland. Weil uns hier alle verstehen. Die noch leben. Aber zuerst müssen wir Tschüs sagen zur Ostsee. Tim badet so gern drin. Er versteht meine Angst nicht. Wenn wieder Tote angeschwemmt werden? Im Wasser gibt es so viele hässliche Menschen. Die schwimmen sogar tot oben. Ich geh besser gar nicht mit an den Strand runter. Dann bleibt Tim nicht so lange. Dann langweilt er sich.
Mein Kopf! Mir tut der Kopf so weh. Kann ich endlich schlafen? Tim ist eine praktische Puppe. Er wacht schon nicht auf. Ich bin´s nur. Träum was Schönes! Ich bin ja bei dir.

(3)
Offenbar regnete es schon seit Stunden. Sanne lachte den Wolken entgegen. Gefährlich sei der Regen immer nur am Anfang. Dann sei er aufgeladen mit chemischen Substanzen, die die Bindehaut angriffen. Sie wolle doch nicht blind werden, oder? Egal, ob das stimmte. Sanne wollte nicht blind werden, aber jetzt bestand wohl keine Gefahr. Hoffentlich hielt die ¾ Tight, was sie versprach. Es wäre peinlich, wenn sie sich mit Wasser voll saugte. Und dann hielt vielleicht jemand und die ganze Zeit waren die Beine feucht und der Sitz. Die Regenjacke war sicher zuverlässig.
Aber was sollte sie sich Gedanken machen? Erst einmal mussten sie eine Bundesstraße erreichen. Erst die an der Küste entlang, dann weiter eine Strecke, die früher die Grenze ihres Heimatlandes gewesen wäre. Also Deutschland. Dort, wo man ähnlich sprach wie sie. Nicht, dass es vernünftig gewesen wäre zu trampen. Aber was sollte sie Vernünftiges tun? Einen Schienenverkehr gab es nicht mehr. Höchstens auf den automatisierten Strecken, aber da wohl auch schon nicht mehr. Wer es sich zutraute, fuhr in einem Auto der Ahnen. Und dann hatte er eben Glück oder er hatte keins. Es war immer Zufall, ob man auf eine Tankstelle traf und wenn, ob sie in Betrieb war. Die Batterien aufzuladen klappte oft ohne Kosten. Aber mitunter blieb der Wagen stehen und dann ließ man ihn eben stehen. Die Idee mit der Rundreise an der alten Grenze fand Sanne ausreichend verrückt. Etwas Vernünftiges zu versuchen war idiotisch. Zum Spielen war sie zu alt. Einen Grund, warum sie in etwa sieben Jahren noch leben sollte, gab es nicht. Es gab eigentlich keinen Grund, warum in sieben Jahren überhaupt noch irgendein Mensch irgendwo leben sollte. Sie selbst hatte überhaupt nur einen Grund, leben zu müssen: Sie musste für Tim sorgen. Und eines war klar: In der Nähe von Claudias Leiche wollte sie nicht sein und jemanden, der sich um sie gekümmert hätte, gab es nicht mehr.
Claudias Mastercard war in Tims Hose verborgen. So richtig begriff Sanne die Sache mit dem Geld nicht. Irgendwie war es ja eine praktische Angelegenheit gewesen. Scheinbar hatte früher einmal jemand etwas, was etwas wert war, gegen so ein Versprechen eingetauscht, es wieder gegen etwas Vernünftiges zurück zu tauschen. Wenn man alles immer dabei haben musste, was man brauchte, dann war das doch schwer. Und wenn man etwas hatte, was man tauschen wollte, dann musste man erst einmal den treffen, der das haben wollte, was man hatte. Und am meisten wollten alle etwas zum Essen eingetauscht bekommen. Solche Versprechenskarten nutzten nun nur noch an Automaten. Die glaubten immer noch, dass irgendeine Zahl, die sich von einem Computer zum anderen Computer bewegte, als Versprechen auf alles Mögliche eingelöst werden konnte.
Sanne und Tim hatten kein Glück. An jenem Tag nicht und in den folgenden Wochen auch nicht. Das heißt, gelegentlich kamen sie durchaus ein kleines Stück voran. Sprünge von Dorf zu Dorf, selten einmal zur nächsten Kleinstadt.
Sanne konnte nur zwei Wünsche gegeneinander eintauschen. Sie brauchte immer wieder neu etwas zum Essen für sich und Tim. Ganz selten fand sie jemand, dem sie bei etwas helfen konnte, also der wirklich zum Beispiel ihr so viele Äpfel überließ, wie sie essen und wegtragen konnte, wenn sie zusammen mit Tim Äpfel richtig vom Baum pflückte. Die tauschte sie dann in der Stadt gegen Anderes ein. Wirklich viel bekam sie aber nur von den Jungen, deren Penis noch dick wurde. Meist arbeitete sie schnell und geschickt mit ihren Händen und mit dem Mund. Aber es wurden weniger. Eigentlich wusste Sanne ja, dass das früher etwas war, was zum Liebe machen dazu gehörte. Sie hatte gelesen, dass das mitunter noch Männer mit über 60 Jahren gekonnt hatten. Nun war es ihr schon ein paar Mal passiert, dass Jungen, die noch nicht einmal aussahen wie 40, von ihr erwarteten, dass sie ein eingeschrumpftes Schniepelchen zum Aufquellen brachte, und sie hatte sich Mühe gegeben, aber die Dinger waren nur tropfende Blasenausgänge. Und als wäre sie schuld daran, hatte sie sogar einmal einen Zahn lose geschlagen bekommen. Und hungrig geblieben waren sie auch.
Manchmal hatten sie Glück. Dann trafen sie auf ein Haus, wo alle schon gestorben waren. Sie musste nur die stinkenden Körper wegräumen und in den Zimmern, wo vorher Leichen gelegen hatten, konnte man nicht essen und schlafen. Aber hatten die Nachbarn die letzten Todesfälle noch nicht bemerkt, dann gab es noch Vorräte. Sonst waren die Mauern wenigstens gut gegen Kälte und aus der Leitung kam Wasser.
Sanne hatte von Krankheiten gehört, die von den Leichen kamen. Aber die Berichte hatten freundlich geklungen. Wenn man daran starb, dass dauerte es keine Monate.
Wenn Sanne an einem zuckenden Penis ihre Kraft für Essen und manchmal ein warmes Bad und Bett oder etwas anderes Schönes einsetzte, dann versteckte sich Tim. Nein, sie schickte den Bruder irgendwohin, wo er nicht weit war, aber nicht zusehen musste. Seinen Penis hatte sie noch nicht so aufgeblasen gesehen wie die ihrer Futterjungen. Manchmal, wenn sie sich fest an ihn ankuschelte, dann dachte sie daran. Die meisten Jungen wirkten, während sie an ihnen schlürfte, als empfänden sie eine große Freude dabei. Viele dieser Freuden erlebten sie nicht. Sollte Tim nicht einmal das erleben dürfen? Sie hatte es eben schlecht erwischt. Nun verstand sie, was Claudia damals gemeint hatte: Die große Schwester sein, das ist ein hartes Schicksal. Nun war sie die große Schwester. Und eigentlich taten ihr am meisten Tims fragenden Blicke weh, wenn sie mit besonders schönen Proviantpaketen ankam. Wenn sie dagegen Prügel bekommen hatte oder leer ausging, dann nahm er sie in die Arme und tröstete sie. Fast, als hoffte er darauf. Und er hielt es dann einige Stunden aus, ohne zuzugeben, dass er Hunger hatte. Klar. Oft klauten sie auch. Aber die Plätze, an denen wirklich geklaut werden konnte, wurden immer seltener. Wo hätten auch Menschen zusammenkommen sollen, um etwas miteinander zu tauschen. Inzwischen kamen Sanne und Tim in die ersten ganz verlassenen Dörfer. Inzwischen hatten Autos auch nur noch eine Bedeutung für Tims Fantasien. Praktisch kamen sie nur so viel weiter, wie sie auf den eigenen Beinen vorwärts kamen. Und das verkniffen sie sich mitunter mehrere Tage nacheinander, wenn sie einen verlassenen Hühnerhof feierten oder Sannes Dienste in Anspruch genommen wurden. Gab es überhaupt noch Städte? Also solche mit lebenden Menschen darin, keine Ansammlung von toten Mauern?
Einen Festtag zwischen der zähflüssigen Zeit im Irgendwo und Irgendwann gab es dann doch. Sommer war es und sie hatten gerade gut gefüllte Rucksäcke. Da hatte die Luft Violine gespielt und von einer alten, schon lange nicht mehr benutzten Landstraße aus sahen sie einen hügelab gelegenen schlafenden See. Sie sahen sich an, nickten sich zu, und dann fingen sie an zu rennen, quer über die Wiese, auf der bisher ungestörte Insekten Löwenzahnblüten geküsst hatten. Wie Kinder quietschten sie, obwohl Sanne schon 13 war, und sie rissen sich die schweißverklebten Sachen im Laufen herunter und sie prusteten und durch ihre Körper ging der Schreck eines kalten stechenden Wasserrauschs. Und während sie sich die letzten Haare nass machten, gab es für sie nicht nur keine lebenden, sondern auch keine toten Menschen. Sie balgten sich eine Weile. Endlich suchten Sannes Füße den Weg zurück ans Ufer. Sonnenstrahlen spielten mit Glitzertropfen auf ihrem Rücken. Sie sah sich um. Tim schwamm noch eine Runde. Nun nur noch bis über die Knöchel im Wasser blieb Sanne stehen, um auf den Bruder zu warten. Der kam heran, setzte die Füße auf und stoppte.
„Na, was ist?“ In Sannes Augenwinkeln hatte sich ein Schalk platziert, den sie längst verloren geglaubt hatte. „Komm raus! Du wirst dir noch was verkühlen.“
Und dann kam er wirklich auf sie zu. Er sah ihr nur in die Augen. Ihr Blick schaukelte zwischen Gesicht und jenem steil aufgerichtetem Trotz hin und her. Sanne reichte Tim ihre Hand. Die letzten Schritte taten sie gemeinsam. Irgendwie feierlich.
Als sie danach das nächste Mal in den See stiegen, um den frischen Schweiß abzuspülen, freute sich jeder darauf, den Anderen vor dem Ertrinken in unsichtbaren Strudeln zu retten.
In dieser Nacht schliefen sie aneinander geschmiegt am Ufer des Sees. Sanne genoss den Moment, an dem sie dachte, der Bruder schliefe, und sie konnte ihren Gedanken nachhängen. Da hörte sie es murmeln: „Wenn ich mir eine Schwester hätte wünschen können, ich hätte dich gewünscht.“ Sanne hoffte, Tim bemerkte nicht, wie sie weinte.

(4)
Ich hatte nicht mehr dran geglaubt. Es ist so ein seltsames Gefühl. Wir laufen über diese Monsterstraße, die früher einmal Autobahn geheißen hat. Inzwischen sieht man schon, dass darauf eine Weile kein Auto mehr gefahren ist. Wir übersteigen seltsame Gebilde, die wohl dazu da waren, dass man sie nicht übersteigt. Ohne lesen zu können wäre das alles nicht zu verstehen. Riesige Hinweisschilder verraten uns, wohin wir wie hätten gefahren sein können. Dunkel erinnere ich mich, dass sich ein Ring um die alte Hauptstadt windet. Von ihm aus gibt es Fangarme nach innen, Wege ins Zentrum. An diesem Schreckenswerk früherer Menschen vergnügt mich nur eins: Es stehen extrem wenige Autos herum. Wahrscheinlich haben hier die Tankstellen am längsten funktioniert oder die Menschen haben die kleinen Reserven dort aufgebraucht, wo was Wichtigeres war.
Dann kommt eine neue Enttäuschung. Drinnen im Ring ist es kaum anders als draußen. Was soll daran Hauptstadt sein? Im Laufe der nächsten Tage wird eines deutlich: Es gibt doch einen Unterschied: Alle verlassenen Grundstücke sind ausnahmslos gründlich geplündert worden. Außer gepflegten Plätzen zum Schlafen finden wir kaum Nützliches. Allerdings liegen auch kaum Leichen herum. Irgendwer muss sie bis zum Schluss weggeräumt haben. Dieser Irgendwer hat noch gelebt. Jetzt ist er weg.
Die Zeit vergeht jetzt anders. Es gibt kein Ziel mehr. Ich bin nun fast 16 Jahre alt, so alt wie Claudia damals. Inzwischen sind wir in fast allen Ländern gewesen, in denen Deutsch Landessprache ist. Eine blöde Idee. Das weiß ich jetzt. Und die Hauptstadt als krönender Schlusspunkt ist wohl das blödste daran. Ob wir wohl noch einen lebenden Menschen treffen? Ob das überhaupt wichtig ist?
In jedem Haus, das wir bewohnen, gehe ich als erstes ins Bad. Dort kommt dann der Blick in den Spiegel. Es kann nur noch Tage dauern, bis es losgeht. Ohne Tim würde ich alle Spiegel meiden. Aber ich will nicht, dass ich es zuerst in seinen Augen sehe. Ich will nicht, dass er mich anlügt, wie schön ich aussehe. Wie ein Mädchen eben. Und wir sind bald so ein Griechenpaar. Philemon und Bauxis. Aber wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich bin zuerst ich dran und Tim rast hinterher.
Wieder ein Tag zwischen toten Gärten. Tim macht sich seinen Witz damit. Er geht in den Straßen von Auto zu Auto. Fast alle sind verschlossen. Der Rest ist leer. Es ist ein böses Vorzeichen. Hunderte Autos, vielleicht Tausende hat er schon getestet und nicht eines brachte er zum Fahren. Und ich? Ich habe aufgegeben, ihn davon abzuhalten. Es zu versuchen ist genauso sinnlos wie es nicht zu versuchen. Und dann passiert es. Er sitzt in einem solchen Uraltding, ruft mich und … plötzlich brummt es. „Spring rein!“ ruft er. Und ich spring. Tim deutet auf einen Schlüssel, der steckt. Wer weiß, was da passiert ist. Überhaupt nicht wichtig. Ich habe Angst. Tim ist doch noch nie Auto gefahren. Keine zwei Minuten und der Wagen ist voller Beulen genau wie der vor und hinter ihm. Aber Tim lacht und fährt! „Alles abgeguckt!“ ruft er und ich stelle mir vor, dass wir gegen eine Mauer rasen und dass das ein schöner schneller Tod wäre. Aber Tim biegt ab und biegt nochmal ab. Wir fahren jetzt doch zwischen vielen Häusern durch, hohen Häusern, gespenstischen Blöcken mit über hundert Fenstern und niemand ist dahinter. Und dann passiert es. Zwischen zwei Blöcken kommt ein Ball auf die Straße geflogen. Hinter ihm her rennt ein Junge, ein schwarzer Wuschelkopf. Tim gibt Gas, reißt das Lenkrad nach links. Es quietscht, scheppert … Dann stehen wir. Ich sag nichts. Tim ist so blass. „Die Bremse … Ich hab Gas gegeben … Ist er …?“
Ich mach die Tür auf, seh mich um. Da! Da ist er.
Ich winke.
Langsam kommt er näher, als traute er seinen Augen nicht.
Als er ran ist, murmelt er, starr seine Augen auf mich gerichtet, allerdings laut genug, dass ich es verstehen kann: „Krass eh!“
Und ich frage: „Gibts noch mehr von deiner Sorte?“
„Komm!“ sagt er und winkt. Das gilt nur mir. Tim hat er wohl noch nicht bemerkt. Der hat sich aber inzwischen gefasst. „Eigentlich müsste hier irgendwo so ein Schlauchboot rauskommen. Airbag, weißt du? Zur Sicherheit. Warum …?“
Es ist mir eigentlich egal, warum das Airbag nicht funktioniert hat. Wichtig ist doch, dass alle heil davon gekommen sind. Und dass wir jemanden zum Sprechen haben.
In der Zwischenzeit kommt ein anderer schmächtiger Junge zum Vorschein. „Ich bin Erkan. Aber du darfst auch Türk sagen. Machen alle. Weil, das ist Viet. Frag ja nicht, wie er richtig heißt!“
Ich stelle Tim vor und mich. Türk gafft mich an wie so eine Außerirdische. Dabei … er sieht gut aus. Ich schätzte ihn 15 wie Tim. Viet wirkt jünger, aber ich weiß, dass das immer so ist bei den asiatischen Jungen. Zumindest hat das früher gegolten.
Wir gehen durch einen Torweg, über einen Hof, den auf allen Seiten Blöcke mit sechs Etagen vom Wind abschirmen. Es schallt irgendwie komisch. Da sage ich lieber nichts. Warte ab. Und dann öffnet Türk eine der Türen und wir kommen in eine echte Wohnung. Nicht geplündert, richtig mit Möbeln. Wohl warm, weil Sommer ist. Und dann … stehe ich plötzlich in einem Zimmer zwischen eins, zwei, vier … sechs Jungen. Tim hat sich nicht reingetraut. Ich kann mir nur zwei Namen auf Anhieb merken: Tom, weil das so ähnlich klingt wie Tim. Aber zum Glück hat der eine fast schwarze Haut außer an den Innenhänden, da werde ich ihn wohl nicht verwechseln. Und einen Ali. Ob der wirklich so hieß? Er war jedenfalls so ein arabischer Typ.
„Nein. Also so weit du hier läufst, findest du keinen Menschen mehr“, erklärt mir Türk, der wohl so was wie der Boss der Truppe ist. Soweit ich das erkennen kann, sind alle im selben Alter. Wir sind die Letzten, die für ein paar Monate zusammen sterben dürfen.
„Wollt ihr bei uns bleiben. Ist sonst eh nix los.“
Zum einen gefällt mir Türk … zum anderen …
Ich traue meinen Ohren nicht, als ich mich antworten höre: „Falsche Frage. Richtige Frage: Wollt ihr euch uns anschließen?“
Zwei der Jungen, deren Namen mir entfallen sind, kaum dass ich sie gehört habe, stehen auf und starren jetzt auch.
„Na, die letzten Tage werden bei mir nicht vergammelt.“
Ich sage es in meinem Große-Schwester-Ton und niemand widerspricht.

(5)
Sannes erste Amtshandlung als Gruppenobmann war eine Art Wohnordnung. Jeder war nun zuständig für eine eigene Wohnung, Sauberkeit und dass sein Bett darin so aussah, dass man sich gern hineinlegte. Dazu kam ein Gemeinschaftsraum, für dessen Zustand sie reihum zuständig sein sollten. Und wozu das Ganze, hatte Türk noch versucht, zu widersprechen. Na, es könne ja sein, dass sie nicht immer im selben Bett schlafen wolle, hatte Sanne erklärt. Aber in einem verkeimten auf keinen Fall …
Türk hatte anzüglich gelacht. Aber er hatte genauso reagiert wie die anderen: Gleich wenn man das Haus betrat, wirkte es schon am nächsten Tag wohnlicher. Niemand gab offen zu, das Glas mit dem Grün ins Treppenhausfenster gestellt zu haben. Aber am Vortag hatte es noch nicht dort gestanden.
Am Abend des zweiten Tages gab es einen leisen Streit im Zimmer der Geschwister.
„Das hast du doch nicht wirklich ernst gemeint, oder?“
Tims Frage stand als Vorwurf im Raum.
„Meinst du, ich mache leere Versprechungen?“
Dass Sanne dann Tim vorwarf, dass sie zuvor doch meistens mit ihrem Körper bezahlt hatte, was sie gemeinsam zum Leben brauchten, das wisse er doch, nahm ihm den Atem. Sie wusste, es war gemein und es gab einen Unterschied zwischen etwas wissen und etwas wirklich wissen.
„Aber das hier ist etwas Anderes.“ Wieder so eine Floskel, deren tiefe Bedeutung beide gern umgangen hätten. Doch dann setzte Sanne Tim ihre Beweggründe auseinander.
Noch sei gar nicht heraus, bei wem die Männlichkeit über die große Klappe hinaus reichte. Es sei zwar niemandem ein Symptom der Erkrankung anzusehen, aber die verliefe ja immer mit kleinen Nuancen. Sie wolle ein Kind. Sie möchte etwas, wofür es sich zu leben lohne, etwas, was bedeutete, es sei eben nicht alles zu Ende. Ob er das denn nicht verstehe? Sie wolle sogar zwei Kinder. Solche wie ihn und sich. Solche, für die sich die letzten Tage lohnten. Jeder einzelne Tag. In jeder Unwahrscheinlichkeit sei immer noch ein Stück Hoffnung. Ein ganz kleines nur, aber eben eine Chance, die nicht Null sei. Ihre Chance sei eben erst Null, wenn sie wirklich gestorben seien. Und wenn ihre Babys als Babys starben, dann war das eben so … aber sie hätten es wenigstens versucht. Ob er denn wirklich wolle, dass sie sich in ein paar Monaten gegenseitig anödeten, weil sie selbst zum Sterben zu doof waren und Verhungern sei kein schöner Tod, aber wer sollte denn rausgehen, um für sich etwas zu Essen zu besorgen und das sei doch nur ein längeres Sterben. Ob er das wolle? Er solle sich doch einmal vorstellen, dass jeder dieser Junge sich ausmalte, Vater des Babys zu sein. Kämpfen würden sie. Tag um Tag für das Kind und vielleicht für ganz wichtige Momente vergessen, dass sie gerade beim Sterben waren. Denn was sei denn Leben sonst Anderes als aufgeschobenes Sterben und das Pflanzen von Hoffnung. Und der Anfang sei doch schon gemacht.
Tim verstand diese Anspielung nicht. Er wollte Sanne weiter bedrängen. Doch die rüttelte ihn. Mensch, Tim, klar kann es ein Zeichen der Krankheit sein, dass die Blutung ausgeblieben ist und sie war ja immer sehr unregelmäßig wegen der vielen Aufregungen. Aber sie sei sich fast sicher, da wuchs schon was. Und er solle darüber die Klappe halten. So, wie sie noch ein paar Wochen die Klappe halten würde. Dann würde sie jedem erzählen, das Kleine sei von ihm und dass sie den Anderen dasselbe erzählen würde. Und sie wünsche sich so sehr, beim nächsten wäre es die Wahrheit, dass sie nicht wisse, wer der Vater würde, aber ob ihm, Tim, nicht aufgefallen sei, dass er wahrscheinlich der Jüngste war und also am ehesten auch für das nächste Kind als Vater in Frage käme. Umso wichtiger sei es, wenn sich alle auf das erste freuten.
Und jetzt könne er entscheiden, ob sie schon gleich den zweiten Jungen zum Vater machen solle oder er lieber besonders zärtlich zu ihr wäre.
Tim war erst zärtlich und dann packte ihn eine innere Wut und er keuchte und malte sich aus, dass dort, wohin er stieß, schon ein Anderer war … oder eine Andere. Und sehr schnell war er erschöpft und schlief ein und im Schlaf schien er zu weinen. Noch in derselben Nacht fragte Sanne den Viet, ob er ihr, wenn er schon nicht ein Kind machen wolle, doch wenigstens all das antun möchte, was dazu nötig sei.
In der folgenden Woche testete Sanne alle Jungen bis auf Türk. Immer wachte sie in anderen Armen auf und immer bemühte sie sich, zu allen nett zu sein. Nur Tims Frage tat ihr weh. Obs schön gewesen war. Schöner als bei ihm. Anders eben, sagte sie, anders. Und sie wusste, dass Tim zwischen Selbstzerfleischung und der Hoffnung hin und her schwankte, sie würde sagen, er wäre der Beste gewesen. Doch um nicht zu lügen, sprach sie eine unbezweifelbare Wahrheit. Er sei ihr Lieblingsbruder.
Dann kam der Kampf mit Türk. Es hatte geknistert bis zum Geht-nicht-mehr. Es war kein Geheimnis. Er hatte sie läufige Katze genannt und sie ihn einen jaulenden Kater. Endlich, endlich entlud es sich. Wie auch immer es um die Jungen stehen mochte, Sanne gelang es, dass sie sich als „richtige Männer“ fühlten.
Noch immer sah keiner der Jungen älter als 20 aus. Die ersten Male hatte es ungeheurer weiblicher Einfühlung bedurft: So etwas passiere jedem Jungen, jedem gesunden jungen Mann gelegentlich, dass sein Mischa nicht aus dem Winterschlaf will. Das habe überhaupt nichts zu bedeuten. Sie wisse da ein paar Tricks … und dann zeigte sie ein paar Tricks. Bis dann der Tag kam, als sie das erste Mal sagte, sie sei sich sicher. Und er solle doch so lieb sein, dass auch die anderen Jungen den Glauben gewännen, sie seien der Vater. Und sie wusste noch andere Tricks.
Mit jedem der Jungen ging sie gelegentlich ins Bad. Doch außer dem kugligeren Bauch und den Brüsten, auf die Sanne so glücklich stolz war, war nichts von der Hetze der Zeit an ihren Körpern abzulesen.
Unmerklich hatten die Jungen Sanne angenommen. Erst nur als längst schon nicht mehr erhoffte körperliche Partnerin, immer mehr aber begann sie, Ziele zu stecken. Zum Beispiel würde das Baby einen Platz brauchen zum Schlafen, eine Wiege, einen Kinderwagen, Sachen zum Anziehen. Nichts davon, vielleicht abgesehen davon, dass man das Baby vielleicht in ein Bett für Erwachsene legen konnte, war vorhanden. Frost war in den Wintern zwar selten, aber kalt würde es schon werden. Irgendwann hatte die Versorgung mit Fernwärme ausgesetzt. Wie durch ein Wunder kam mitunter noch Strom aus der Steckdose. Irgendwo gab es also mindestens ein Kraftwerk, das arbeitete, ohne dass dort jemand arbeitete, oder vielleicht lebten noch andere Menschen. Das wäre nicht das Wichtigste. Nützlicher wäre, zu Heizkörpern zu kommen, die man mit jenem Strom betreiben konnte. Ob sie nicht losziehen wollten auf der Suche nach einem Haus mit Kachelofen oder Kamin. Damit wäre auch eine andere Frage leichter zu lösen: Wie sollten sie die Versorgung mit Lebensmitteln dauerhafter sichern, wenn es kalt war. Ein Stall mit Haustieren wäre gut. Natürlich wäre der riesige Innenhof hier auch verwendbar. Es gab nur eine schmale Stelle, die sie hätten zumauern müssen. Aber dafür hätten sie Tiere gebraucht. Immer nur Reis und Nudeln mit irgendwas aus der Tüte war nicht nur langweilig und als Nahrung für eine Mutter, die ein Kind säugen sollte, zu unausgewogen – wenn sie die Reserven zusammenrechneten, die sie aus den Resten der Kaufhallen der Umgebung erbeutet hatte, so wären die voraussichtlich im Februar aufgebraucht. Die Gläser und Büchsen mit Fertiggerichten waren schon aufgebraucht.
Sanne teilte also Arbeitsaufgaben zu. Immer waren zwei Zweierteams unterwegs. Heizgeräte, Essbares, Stoffe … Was immer nützlich sein konnte, sollten sie besorgen. Bebaute Grundstücke mit Stall oder so finden, die nicht ausgeplündert waren.
Sanne selbst blieb „zu Hause“. Inzwischen überboten sich die Jungen darin, ihr Schweres oder Gefährliches fern zu halten. Dabei war sie erst im 6. Monat und konnte ihre Schwangerschaft noch mit geeigneter Kleidung verbergen.
Die größte Entdeckung machte Türk. Er fand ein Grundstück, neben dem eine Herde Kühe krepiert war. Sehr bildhaft schilderte er die Gerippe und wie er sich den qualvollen Tod dieser Eutermilchmaschinen auf vier Beinen vorgestellt hatte. In der Nähe lebten aber noch eine Menge halb verwilderter Hühner. Er habe nicht verstanden, warum nicht Katzen oder Hunde über sie hergefallen seien, aber es lohne sich, dorthin mehrere Ausflüge zu unternehmen. Man würde Säcke und Kescher und solche Sachen brauchen.
Mit Wunsty gab es einen kleinen Streit. Er war überzeugt, für alle das ideale Haus gefunden zu haben. Der einzige Grund für diese Überzeugung waren die Fotozellen auf dem Dach. Da hätten sie doch eine eigene Stromversorgung. Schließlich gab er zu, dass sie gerade in der kältesten Zeit auf Strom aus dem großen Netz angewiesen waren.
So vergingen die Wochen. Sie hatten gemeinsam drei Etagen eines dieser Wohnblöcke hergerichtet. Den meisten Platz verbrauchten die Lagerbestände. Inzwischen hatten sie zwei Autos – ein normales und einen Kleintransporter. Sanne hatte entschieden, dass sie extrem sparsam mit den Kraftstoffreserven umgehen mussten. Wo sollten sie Batterien aufladen, wo Brennstoff? Eigentlich tauchten immer neue Probleme auf. Aber insgesamt sammelten sie Pluspunkte. Ihre Lebensumstände verbesserten sich von Tag zu Tag ein wenig. Manchmal sprachen sie darüber, dass sie tatsächlich keinen weiteren lebenden Menschen mehr getroffen hatten. Oft aber sprachen sie über das kommende Baby. Zum Beispiel, dass es ihre Spitznamen lernen sollte, weil es bestimmt zu schwer war, wenn es bei so verschiedenen Gesichtern „Papa“ sagen sollte. Und damit war klar, worüber sie nicht redeten: Über die Krankheit, deren erste Anzeichen jeder für sich heimlich suchte.
Oft hockten die Jungen neben Sannes Bauch, gehorchten fast ehrfürchtig ihren „Anweisungen“, wie sie darüber streichen sollten, und sprachen akzentuiert, weil Sanne meinte, davon sei abhängig, ob das Kind einmal ordentlich sprechen konnte.
Sie hatten einen Kalender angelegt. Der zeigte den ersten Juli, als Sanne plötzlich das Gesicht verzog. Ja, Presswehen, hörten die Jungen und ja, das sei von der geplatzten Fruchtblase.
Was die Mutter anging, so verlief die gesamte Geburt komplikationslos. Mitunter schubsten sich die sieben Väter, wer denn das Glas Wasser reichen oder über den Rücken streichen durfte. Als dann die Austrittsphase begann, war es nicht mehr so eng im Raum. Ohne, dass das im Gegensatz zu jedem einzelnen Handgriff, den sie so oft durchgesprochen hatten, vorher so geklärt worden wäre, waren plötzlich nur noch zwei der Jungen im Raum: Tom, der das mit blutigem Schleim bedeckte Wesen packte und Tim, der wie ein eingespielter Assistent dem Anderen reichte, was der verlangte. Später waren sich alle einig: Ohne die Beherrschtheit des Schwarzen wäre … nur Schlimmes passiert. Und plötzlich, nach dem ersten Schrei, war der Raum wieder voll und alle Helden standen und mussten rausgeschickt werden, weil noch was mit der Mutter gemacht werden müsse. Das sei nichts für sie.
So kam dem dunkelhäutigen Vater des dunkelblonden Mädchens das Recht zu, den endgültigen Namen zu vergeben.
„Lilith!“ sagte er und auf die Verwirrung der anderen Väter hin, weil dieser Name vorher gar nicht im Gespräch gewesen war: „Der erste Mensch vor allen Menschen. In der Legende. Der Anfang, der anders war …“
Und so stimmten alle zu.

(6)
Bin das wirklich ich?
Was für Gedanken mich bedrängen! So viele peinliche. Wenn ich die in ein Tagebuch schriebe, müsste ich zu sehr aufpassen, dass es keiner liest. Aber ich brauche es nicht aufzuschreiben. Ich vergesse sie garantiert nicht. Vielleicht … Wenn ich schreibe, dass ich das von Tom nicht erwartet hatte, dann muss ich damit zugeben, dass ich ihn zu leichtfertig übersehen hatte. Es braucht halt jeder seine eigene Situation, in der er seine besonderen Fähigkeiten zeigen kann. Manche können es nie. Vielleicht kommt für jeden von uns noch der Moment zum groß hinauswachsen.
Und wie weiter jetzt?
Immer Stück für Stück das klären, was gerade wirklich wichtig ist. Zum Beispiel die Milch. Ich werde jetzt Milch haben. Sie wird einschießen und dann …
Immer wieder neue Aufgaben. Wie gestaltet man ein menschliches Leben? Was wird das Kind wohl alles lernen? Wer wird es ihm beibringen? Von dem, was Menschen einmal alles erfunden und gebaut haben, gibt es kaum etwas, was noch funktioniert. Von dem, was die Menschen von der Natur gelernt haben, haben wir das meiste vergessen. Aber eben nicht total. Tom eben zum Beispiel …
Ob ich den Jungs sage, dass ich irgendwie, ich weiß nicht wie, aber eben irgendwie so eine Ahnung habe, dass die Krankheit bei uns nicht kommt? Aber das ist überhaupt nicht wichtig. Wir werden einfach so leben als ob.